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Innere Führung

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Der Begriff Innere Führung beschreibt die komplexe Führungskonzeption der Bundeswehr, er ist verbunden mit dem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform. Für „Innere Führung“ gibt es keine Definition, wohl aber eine Beschreibung in der Zentralen Dienstvorschrift der Bundeswehr ZDv 10/1 "Innere Führung". Dort sind Ziele, Grundsätze, Anwendungsbereiche und Leitsätze der Inneren Führung festgehalten. Ihre Aufgabe ist es, die Spannungen zu mindern, die sich aus den individuellen Rechten des freien Bürgers einerseits und den militärischen Pflichten des Soldaten andererseits ergeben.

Ursprung

Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 stellte sich angesichts der immer schärfer werdenden Ost-West-Konfrontation sehr schnell die Frage der Wiederbewaffnung Deutschlands. Spätestens mit Beginn des Koreakrieges im Sommer 1950 begann in Deutschland und unter den Westmächten ein Umdenken hinsichtlich eines deutschen Beitrages zur Verteidigung Westeuropas. Die Regierung Adenauer berief eine Gruppe deutscher Militärexperten, die sich mit dem Aufbau westdeutscher Streitkräfte befassen sollten. Die Expertengruppe fasste die Ergebnisse ihrer Geheimgespräche im Kloster Himmerod im Oktober 1950 in der so genannten „Himmeroder Denkschrift“ zusammen.

Dabei ging es nicht nur um praktische Fragen des Aufbaus von Streitkräften, sondern auch darum, neue deutsche Streitkräfte zu legitimieren. Angesichts der traumatischen Erfahrungen in zwei Weltkriegen war die deutsche Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt in weiten Teilen pazifistisch und gegen jede Art von Militär eingestellt. Die europäischen Nachbarn hatten tiefgreifende Ängste vor deutschen Soldaten. Die neuen Streitkräfte mussten, wenn sie gesellschaftlich akzeptabel sein sollten, demokratietauglich sein und strikter parlamentarischer Kontrolle unterliegen. Sie durften keinen "Staat im Staate" bilden, wie es bei der Reichswehr der Fall war, und auch keinen gesellschaftlichen Sonderstatus wie im Kaiserreich einnehmen.

Zugleich musste die neue Führungskonzeption dem veränderten Kriegsbild Rechnung tragen, mit dem sich alle Streitkräfte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auseinanderzusetzen hatten. Die neue Truppe musste darauf eingestellt werden, in einem Atomkrieg auch nach Ausfall der zentralen Führung in deren Sinne zu handeln. Daher war besonderes Augenmerk zu legen auf das bereits seit dem 19. Jahrhundert in den preußisch-deutschen Armeen verwirklichte Prinzip des „Führens durch Auftrag“, der sogenannten Auftragstaktik.

Schließlich sollte die Konzeption militärische Hierarchie und technische Kompetenz miteinander in Einklang bringen, weil die neue Bundeswehr, mehr noch als vorher die Wehrmacht, eine hochtechnisierte Truppe sein würde.

Es bedurfte einer Reformkonzeption für das Innere Gefüge der Bundeswehr, ein Begriff, der anfangs synonym für Innere Führung gebraucht wurde. Zu den Vordenkern der Inneren Führung gehörten die Generalleutnante a.D. Dr. Hans Speidel und Adolf Heusinger, Oberst a.D. Johann Adolf Graf von Kielmansegg, Oberstleutnant a.D. Ulrich de Maizière und Major a.D. Wolf Graf von Baudissin. Sie entwickelten ab 1951 als Mitarbeiter des so genannten Amts Blank die Konzeption der Inneren Führung.

Felder der Inneren Führung

Das Konzept der Inneren Führung hat drei Aufgaben zu erfüllen, die mit den Begriffen Legitimation, Integration und Identität umschrieben werden können.

Nach 1945 stellte sich zuerst die Frage nach der Legitimität des Soldaten: Konnte man nach dem, was geschehen war, und angesichts dessen, was ein nuklearer Krieg mit sich bringen würde, überhaupt noch Soldat sein? Der Einsatz von Streitkräften war nur noch zu rechtfertigen als ultima ratio zur Verteidigung und Krisenbewältigung. Menschenrechte und Völkerrecht waren in jedem Falle bindend. Die legitime Aufgabe der Soldaten musste es sein, den Frieden zu sichern und zu gestalten. Wie Gustav Heinemann später sagte, war der Frieden der Ernstfall.

Die Streitkräfte mussten in die demokratischen Strukturen der Gesellschaft integriert werden. Sie müssen politisch-parlamentarischer Kontrolle unterliegen. Der Soldat ist Staatsbürger mit den gleichen, nur im militärisch begründeten Ausnahmefall eingeschränkten Rechten. Die innere Ordnung und die Rolle der Streitkräfte im Staatswesen müssen demokratieverträglich sein. Das erfordert den "Staatsbürger in Uniform".

Daraus leitet sich das Selbstverständnis der Soldaten, ihre Identität, ab. Soldaten sind Staatsbürger, die dem Staat in ihrem Beruf dienen. Sie nehmen an der gesellschaftlichen und politischen Diskussion des Landes teil. Das bedeutet nicht nur, dass sie – anders als die Soldaten der Reichswehr in der Weimarer Republik – das aktive und das passive Wahlrecht besitzen. Sie können und sollen sich auch als Fachleute an der Diskussion zu militärischen und sicherheitspolitischen Themen äußern. Diese Rechte finden ihre Grenzen in der Loyalitätspflicht, der Pflicht zur Zurückhaltung und zur Verschwiegenheit in vertraulichen Angelegenheiten. Der Soldat ist als Staatsbürger politisch Handelnder, der das immer bestehende Spannungsfeld zwischen den Rollen Staatsdiener und Staatsbürger ertragen muss.

Praktische Umsetzung

Bereits 1956 wurde die Schule für Innere Führung in Koblenz gegründet (seit 1981 Zentrum Innere Führung, ZInFü), das mit militärischen und zivilen Lehrkräften ausgestattet ist. Es hat außerdem die Möglichkeit zu eigener Forschung. Am ZInFü werden insbesondere Vorgesetzte unterrichtet. Eine besondere Rolle spielt heute die Ausbildung der Vorgesetzten, die an Auslandseinsätzen teilnehmen sollen. Außerdem gibt das ZInFü eine Reihe von Schriften heraus, in denen die Innere Führung zum Teil auch kritisch diskutiert wird. 1958 berief Verteidigungsminister Strauß den Beirat für Innere Führung ein, der aus zivilen Persönlichkeiten aus vielen Bereichen der Gesellschaft besteht und die Praxis der Inneren Führung beobachtet und begleitet. Der Beirat beteiligt sich aktiv an aktuellen Themen und gibt Empfehlungen wie etwa zur Integration von Frauen in die Bundeswehr oder zum Umgang mit Soldaten fremder Herkunft. Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages widmet der Inneren Führung den Schwerpunkt seiner Aufmerksamkeit.

Haltung der Bundeswehr zur Inneren Führung

Trotz dieser Begleitung ist das Konzept der Inneren Führung in Teilen der Bundeswehr von Anfang an kritisch betrachtet worden. In den ersten Jahren dominierten Traditionalisten, die von der Reichswehr und der Wehrmacht geprägt waren. Während des Aufbaus bestand wenig Raum für tiefgehende konzeptionelle Diskussionen. Erst ab Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts gab es eine immer stärkere Debatte über die Innere Führung. Auslöser waren neben der so genannten Nagold-Affäre die kritischen Äußerungen einiger Generäle und die Auftritte einiger Soldatengruppen (Leutnante 70, Hauptleute von Unna, Reserveoffiziere 1972), die die Innere Führung teils als „Weiche Welle“, teils aber auch als nicht weit genug gehend kritisierten. Insbesondere den Traditionalisten kam es entgegen, dass sich die Innere Führung nicht militärisch knapp definieren lässt - sie kritisierten das Konzept oftmals als wirklichkeitsfern. Sie betonten außerdem die (nach ihrer Ansicht) Unvereinbarkeit soldatischer und ziviler Existenz, da der Soldatenberuf ein Beruf sui generis sei und forderten ein mehr auf althergebrachten soldatischen Werten basierendes Militärsystem mit einer auf „ewigen“ soldatischen Werten basierenden Kampfgemeinschaft. Die Reformer traten hingegen für eine noch offenere Armee ein, die auf demokratisch-pluralistischen Grundwerten beruht.

Mit der Ernennung General de Maizières zum Generalinspekteur 1966 setzte die politische Führung ein klares Signal für die Innere Führung. In den nächsten beiden Jahrzehnten flaute die Kontroverse um die Innere Führung ab. Jedoch wird die Innere Führung auch heute kritisch begleitet. So wird immer wieder Kritik an ihrer Umsetzung laut. So beklagte jüngst die Kommission "Europäische Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr" am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg unter anderem, dass "der ursprüngliche Gehalt der Inneren Führung deformiert und partiell in sein Gegenteil verkehrt" und dass "die Chance zur inneren Demokratisierung ... nur unzureichend genutzt" worden sei.

Ein alter Hauptkritikpunkt an der Inneren Führung tritt immer mehr in den Hintergrund. Lange Zeit war der Inneren Führung vorgehalten worden, sie habe sich bisher nicht im Ernstfall bewähren müssen. Diese Kritik kann nicht mehr aufrecht erhalten werden, nachdem über 100.000 deutsche Soldaten an Auslandseinsätzen teilgenommen haben. In den friedensbewahrenden Missionen scheinen sich die Prinzipien der Inneren Führung gut zu bewähren. Allerdings ist der Inneren Führung die Bewährung in einem intensiven Kampfeinsatz bisher erspart geblieben.

Neue Herausforderungen

Die gewandelte Sicherheitslage nach 1990 stellt neue Anforderungen an die Innere Führung. Das Kriegsbild des Kalten Krieges ist verschwunden und damit des Konzept, kämpfen zu können, um nicht kämpfen zu müssen. Der Versuch, eine sicherheitspolitische Debatte über die neuen Aufgaben der Bundeswehr anzustoßen, wie sie in der Vergangenheit zu Themen wie Wiederbewaffnung, Atomrüstung und NATO-Doppelbeschluss gegeben hat, ist bisher nicht gelungen. Auch die These des früheren Verteidigungsministers Struck, Deutschland werde auch am Hindukusch verteidigt, reichte als Provokation nicht aus, eine Diskussion über die legitimen Aufgaben von Streitkräften in der derzeitigen Weltlage in Gang zu setzen.

Mit den Auslandseinsätzen geht auch ein verändertes Führungsverständnis einher. In dem während der Ost-West-Konfrontation erwarteten Massenkrieg galt strikt das Prinzip dezentraler Führung, verbunden mit weitgehender Entscheidungsfreiheit auf den unteren Ebenen. Die heutigen Einsätze, die ja im Frieden stattfinden, bedürfen genauer politischer Kontrolle. Auch der Führer eines kleinen Truppenteils kann, wenn er sich nicht an die Vorgaben hält, eine politische Krise auslösen. Deshalb entschied sich die politische Leitung, sich den direkten Durchgriff über alle Ebenen auf jeden Verband im Einsatz vorzubehalten. Dieses Verfahren unterliegt jedoch starker Kritik, da es in einer veränderten Führungskultur mündet und es Bildung, Kenntnisse und Erfahrungen der Menschen innerhalb der Hierarchie und vor Ort ignoriert.

Ein Spannungsfeld ergibt sich auch aus der immer engeren Zusammenarbeit mit den Streitkräften anderer Nationen wie zum Beispiel in der Deutsch-Französischen Brigade. Die Führungskulturen anderer Streitkräfte unterscheiden sich zum Teil erheblich von der Inneren Führung. Auch wenn die Bundeswehr die Innere Führung gern als Exportartikel bezeichnet, lehnen es gerade große westliche Nationen mit ungebrochener Militärtradition wie Frankreich, Großbritannien und die USA ab, das deutsche Prinzip zu übernehmen. Andererseits ist die Bundeswehr nicht bereit, die Kernbestände der Inneren Führung der internationalen Zusammenarbeit zu opfern.

Siehe auch

Geschichte der Bundeswehr

Literatur

  • Handbuch für Innere Führung, 1957
  • ZDv 10/1 "Innere Führung", 1993
  • Angelika Dörfler-Dierken: Ethische Fundamente der inneren Führung. Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr, Strausberg 2005
  • Carl-Gero von Ilsemann: Die innere Führung in den Streitkräften. Walhalla und Praetoria-Verlag, Regensburg 1981, ISBN 3-8029-6425-X
  • Jürgen Groß: Weiterentwicklung der Inneren Führung. Zwei Beiträge. Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Heft 130, Hamburg 2002

Weblinks