Benutzerin:Bao-My Nguyen/Berlinale-Blog 2020

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Presseausweis für die Berlinale. Und damit flitze ich jetzt rum.

Im Rahmen des FilmFrauen/Berlinale-Art+Feminism-Edit-a-thons werfe ich zusammen mit Charlie des Alpes einen feministischen Blick auf die Berlinale — sie als Fachfrau aus der Branche, ich aus einer medientheoretischen, intersektionalen Perspektive.

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Filmempfehlungen

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(keine bestimmte Reihenfolge, fett für Favoriten)

Film Kategorie Kommentar
Anne at 13,000 ft Forum Feinfühliger Film über das Aufeinanderprallen der kalten, fordernden Umwelt auf die kindliche Leichtigkeit der Protagonistin. Wunderbare Bilder.
Namo / The Alien Forum Vielschichtiger Film zum Alltagsleben in einem repressiven Staat. Die vermittelte Ohnmacht greift sofort über.
Walchensee Forever Perspektive Deutsches Kino Packende Erzählung der Familiengeschichte über fünf Generationen anhand der Familienfrauen der Regisseurin.
Exil Panorama Wann hört man in Deutschland auf, als fremde Person gelesen zu werden? Starker Film über Alltagsrassismus, Schikanen und die subtilen Ausgrenzungen. Rezension folgt.
Always Amber Panorama Dokumente Warme Montagen von Ereignissen in Ambers Leben. Zukunftsweisender Beitrag zum Thema Gender und zur nächsten queeren Generation.
Futur Drei / No Hard Feelings Panorama Unbedingt sehen! Film aus der queeren, postmigrantischen Mitte Deutschlands. Insbesondere in Zeiten rechten Terrors ein krass wichtiger Beitrag zum Diskurs. Ausführlich hier.
El prófugo / The Intruder Wettbewerb Ungewöhnlich erzählter Film, der noch lange nachhallt. Ausführlich hier.
The Assistant Panorama Der beste Metakommentar zu den Erschütterungen in der Filmbranche und #metoo. Rezension folgt.
Eyimofe / This Is My Desire Forum Vom Traum zweier Nigerianer*innen von einem besseren Leben in Europa und wie alle Bestrebungen für die Ausreise sie fester an Lagos bindet. Der Gegenentwurf zu einem eurozentrischen Diskurs über Geflüchtete.
Favolacce / Bad Tales Wettbewerb Umgekehrter Coming-of-Age Film, wo alle Mitglieder einer bürgerlichen Familie in Italien verschiedene Hoffnungen hegen und doch Abschied von ihren Träumen nehmen müssen. Bildgewaltiges, sehr sehenswertes Werk!
Domangchin yeoja / The Woman Who Ran Wettbewerb Meisterhafte Beobachtungen zum Menschsein anhand einer Frau, die sich durch Gespräche mit Freundinnen wieder selbst findet. Anmutiger Film, der gerade durch die minimalistische Bildsprache seine Vielschichtigkeit aufmacht. Ausführlich hier.
DAU.Natasha Wettbewerb Wuchtiger Film und ein extrem verstörendes Kunstwerk, aber mindestens extrem problematisch in der Rezeption und der Entstehungsweise. Ausführlich hier.
Shirley Encounter Der Film hat alles: Fabelhafter Plot, ausgefuchste Bildgestaltung, komplexe Figuren, geniale Erzählweise. Kann ohne Weiteres Wettbewerbsfilme ausstechen — was zum Henker macht der Film in der Kategorie Encounter? Rezension folgt.
Malmkrog Encounter Forderndes und epochales Werk. Wer sich extrem komplexe Gedanken zu Krieg, Religion, Europa, Christus und dem Anti-Christ in einem Setting aus dem 19. Jahrhundert und dennoch Gegenwartsbezug machen will, ist hier bestens bedient. Bei einer Spiellänge von knapp dreieinhalb Stunden mitunter etwas zäh.
Ping Jing / The Calming Forum Zum Niederknien schwelgende, verträumte Bilder und die wohl stimmungsvollste Umsetzung des Motivs der Sehnsucht.
Otac / Father Panorama Eine weiterer Schatz aus der Panorama Sektion: Behutsam erzählt Otac die Geschichte eines Vaters, dem zu Unrecht das Sorgerecht für seine Kinder entzogen wird und für Einspruch den Weg nach Belgrad zu Fuß zurücklegt. Anschauen!


Gedankenfetzen, Schreibbruchstücke und Mini-Dokumentationen zu dem, was ich eigentlich mache.

Mär 01. Abspann.

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Irre, das war sie nun, die Berlinale. Wo ich mich doch gerade daran gewöhnt habe, um sieben Uhr morgens aus dem Bett zu kugeln, um mir einen 200-Minuten-Film anzusehen.

Ich habe während der Laufzeit des Festivals viel weniger bloggen und meine Gedanken ablassen können als ich dachte, und dazu folgen die Tage noch ein, zwei Beiträge. Die halbgaren Rezensionen wollen auch noch das Licht des Wikis erblicken, bevor das Interesse an der Berlinale komplett versandet. (Nach der Verleihung des Goldenen Bären wahrscheinlich schon geschehen, but you know.)

Anzahl der geschauten Filme 30 (am wenigsten am Tag: 2; am meisten am Tag: 4)
davon mit weiblichem Lead 15
davon von Regisseurinnen 10
Häufigste Leitmotive Das Böse / Übel, Kommunikationsschwierigkeiten, Sehnsucht
Heimliche Protagonist*innen Katzen
Sympathischste Pressekonferenz Dongmangchin yeoja / The Woman Who Ran
Erster Film My Salinger Year (Berlinale Special Gala) (Pressevorführung vor der Berlinale: Anne at 13,000ft im Forum)
Letzter Film Sa-nyang-eui-si-gan / Time To Hunt (Berlinale Special Gala)
Längster Film Malmkrog (Encounter) mit 200'
Bestes Kino CinemaxX, Zoo Palast
Feministischster Film Never Rarely Sometimes Always (Wettbewerb)
Pseudo-feministischster Film My Salinger Year (Wettbewerb)
Nochmal sehen,

weil halb verschlafen

Rizi / Days (Wettbewerb)
Nochmal sehen,

weil Inhalt zu hoch

Malmkrog (Encounter)
Schwindelerregendster Film Surge (Panorama) (Ich reagiere wahnsinnig empfindlich auf wackelige Bilder. Surge war ein einziges Gerenne mit Handhelds.)
Komplett overrated Effacer l’historique / Delete History (Wettbewerb)
Nacht mit wenigstem Schlaf Dienstagnacht mit 2h
Nacht mit meistem Schlaf Samstagabend mit 7h
Produktivster Output Zwei Blogbeiträge an einem Tag, yay!
Die wahren Held*innen der Berlinale Menschen am Presseticketcounter und Menschen hinter dem Kaffeetresen im Pressebereich.
50/50 by 2020 lol.

Danke soweit an alle, die diesen Blog hier verfolgt und kommentiert haben; das war eine spaßige Angelegenheit! Und nochmals ein riesiges Dankeschön an alle Frauen bei WomenEdit für die Gelegenheit — wir sehen uns im Laufe des Monats bei einem Treffen!

Bao-My, 23:49, 01. Mär. 2020

Kommentare  
Da ich absolut keine Ahnung habe, wie ich hier Emoticons einfüge, schicke ich Dir ein Tastatur-Winke-Smiley. (^_^)/" Lustige Statistik, die ich grade mit Gewinn gelesen habe! IvaBerlin und ich lesen definitiv weiter, ich bin sicher, da sind noch mehr, die Dir folgen! --Grizma (Diskussion) 11:39, 2. Mär. 2020 (CET)
So isses! ein SmileysymbolVorlage:Smiley/Wartung/b  Ich wünsche mir auch wenigstens einen Hinweis im Blog auf Deine Filmempfehlungsliste, die ich immer mal wieder studiert habe. Und für Grizma u.a. ein SmileysymbolVorlage:Smiley/Wartung/;)  hier noch der Link zu den "hauseigenen" Smileys. Grüße von Iva 14:40, 2. Mär. 2020 (CET)
ein rotes HerzVorlage:Smiley/Wartung/herz  ein SmileysymbolVorlage:Smiley/Wartung/kiss  --Grizma (Diskussion) 16:51, 2. Mär. 2020 (CET)

Feb 28. Klappe zu, Affe tot.

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Die Berlinale fühlt sich sehr fertig an. Alle schlurfen widerwillig zwischen Berlinale Palast und dem Pressecenter (wohl das letzte Mal in nächster Zeit, dass ich sorglos zehn Tage am Stück im Grand Hyatt ein- und austreten kann), seufzen nach einer irreführenden (weil nämlich Ende suggerierend) Abblende laut auf und applaudieren müde. Nur fair, dass zumindest das Herzstück der Berlinale sein Ende gefunden hat: Heute lief der letzte Filmbeitrag in der Kategorie Wettbewerb an. Danach stecken die Jurymenschen die Köpfe zusammen, um einem Film den cineastischen Ritterschlag zu verpassen.

Welcher auch immer geadelt wird: Die wahren Schätze verbergen sich in Encounter, Panorama und Forum. Wobei auch nach wie vor die Frage bleibt, was Encounter eigentlich soll und welches Profil dabei rumkommen wird. Und auf die Gefahr hin, die nicht gesichteten Filme ungewollt zu missachten, auch wenn man sich jeden Tag fleißig durch das Programm mit 340 Filmpremieren pflügt.

Berlinale Palast Kinosaal bei der letzten Wettbewerbsvorführung.

Trotzdem beteilige ich mich mal am Spekulationsspiel. Weil's ja auch Spaß macht. Disclaimer: Von den 18 Wettbewerbsbeiträgen habe ich 13 gesehen.

Die Download Dummys der Verkündigung sind witzigerweise schon online scharf gestellt. Ein abschließender Kommentar zum Gesamtding schreibe ich Sonntag, ich verschwinde nochmal für fünf Vorstellungen in den Kinosesseln.

Bao-My, 23:54, 28. Feb. 2020

Kommentare  
Ich versuche mich auch mal an einem Kommentar. Zum Einen: DANKE! Ich habe immer mal wieder einen Blick auf Deine Filmempfehlungen geworfen und lese Deine Blogbeiträge ausgesprochen gern. Zum Anderen: Es GIBT inzwischen sogar schon Preise! Noch nicht für den Wettbewerb - nur für andere Sektionen: Siehe hier. Jetzt auch wieder in einem Kinosessel verschwindende Grüße von Iva 13:06, 29. Feb. 2020 (CET)
kicher - El prófugo fand ich total fischig, wischi-waschi, nicht sonderlich gelungen, eher im Bereich schlecht-kitschiger Mystery angesiedelt. Wenngleich ich die Hauptdarstellerin sehr mochte und auch viele einzelne kleine Szenen aus dem Alltag einer Frau unter Männern. Lustig, dass er Dir, Bao-My, so gut gefiel! Die Spannung steigt, welcher Film es am Ende wird. Meine Tipps gehen auch in Richtung Never Rarely Sometimes Always, den ich leider noch nicht gesehen habe. Aber der wird ja sicher ins Kino kommen. --Grizma (Diskussion) 14:15, 29. Feb. 2020 (CET)


Feb 26. Uuuuuuund Halbzeit.

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Die Mail springt mir entgegen: "Erfolgreiche Halbzeit der Jubiläumsausgabe der Berlinale" Erfolgreiche Halbzeit der Jubiläumsausgabe der Berlinale Halbzeit? Erst?

Ich habe bisher mit niemanden gesprochen, der*die seit dem Start am letzten Donnerstag mehr als fünf Stunden Schlaf gebacken bekommt.

Mein Zwischenstand und bisherige Beobachtungen:

Auf dem Weg vom Potsdamer Platz in Richtung Berlinale Palast. Davon gibt es noch drei andere Variationen. Aua.
  • Ich habe sieben Rezensionen ausstehen und täglich kommen ein, zwei hinzu, aber keins wird erledigt. Müsste nicht über alle berichten, aber mich juckt es in den Fingern. In der Ausführlichkeit werde ich wohl Abstriche machen müssen, aber für den Rest gibt es ja zuhauf professionelle Rezensionen.
  • Selbst bei 1,67m Körpergröße sind manche Kinosäle von der Beinfreiheit her höchst problematisch.
  • Ich kann mir nun ohne Probleme vier Filme an einem Tag anschauen (wie heute mit Laufzeiten von drei, anderthalb, zwei, zweieinhalb und zwei Stunden). Ich bin nur einmal bei einem Film kurz weggenickt.
  • Toll: Wenn man mit anderen berichtenden Studierenden Banden bildet und das Anstehen solidarisch aufgeteilt werden kann. Eine*r beim Café, eine*r vor dem Kinosaal. Üblicher Wechselkurs: Kaffee für guten Sitzplatz. Und auch toll: Anschließende Diskussion nach der Filmvorführung. Wie fandest du den Film? wird jetzt durch Welchen Eindruck hat der Film bei dir hinterlassen? ersetzt.
  • Pressevorführung: Selbst 15 Minuten vor Vorstellungsbeginn lassen sich bei einem vollen Saal noch Plätze in der Mitte ergattern. Öffentliche Vorführung: Die Schlange zum Einlass in einer Stunde (!) macht eine Biegung in die Seitenstraße und es gibt realistisch keine Chance auf einen Sitzplatz ohne Nackenverkrampfung.
  • Wenn zwei Personen sich gleichzeitig auf eine sich langsam zuschwingende Flügeltür bewegen, wird diese komplett zugehen und beide Personen stehen erwartungsvoll davor. Aber keine*r macht Anstalten, sich um das Problem zu kümmern. Bis sie eine andere Person von der anderen Seite aufdrückt und alle wie Lemminge durchhuschen.
  • Einige Gesichter sieht man nun immer wieder. Aus Versehen Augenkontakt aufgenommen? Kurzes Zunicken und Lächeln, auf Beidseitigkeit beruhend, weitergehen; immer noch nicht wissen, für welches Medium sie berichten.
  • Und alle so: Yeah, die Berlinale wird feministischer! Und das ZDF so: Yeah, wir feiern uns dafür, Frauen* nicht mehr komplett verzerrt darzustellen und einzig damit fahren wir eine fette Kampagne!
  • Pressekonferenzen: Warum, warum, warum müssen Menschen bei ihrer "Frage" in zwei eingeschobenen Sätzen mit fünf Nebensatzverschachtelungen noch loswerden, wo sie gereist sind, an was der Film sie erinnert, was sie studiert und welche hochstechenden Philosoph*innen und Theorien sie angelesen haben?

Okay, Zynismus aus jetzt. Ich versuche nur darüber hinwegzutäuschen, dass ich so unfähig bin, endlich meine gewollten Rezensionen zu verfassen. Und Schuld ist auch der Schlafmangel, natürlich.

Bao-My, 21:49, 26. Feb. 2020

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Köstlich! Hab mich in vielen Punkten wiedergefunden – ich sage nur Beinfreiheit! Ganz schlimm ist ja in der Hinsicht das Haus der Berliner Festspiele. Gar nicht auszudenken, wie man 3-4 Filme hintereinander so eingequetscht schauen kann, mir reicht da tatsächlich während der Festivalzeit einer am Tag und dann nur angelegentlich! Das mit den Flügeltüren ist extrem ulkig: das hat mir eine Bekannte schon mal erzählt und zwar von denen im Arsenal. Ich hab den Eindruck, seit Jahren wiederholen sich dieselben Geschichten Jahr für Jahr während der Berlinale, nur die Filme sind andere! ;D Grizma, 01:46, 28. Feb. 2020
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Feb 24. Politisches Knistern auf der Berlinale.

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Und ich dachte, der Eröffnungsfilm My Salinger Year hat eine politisch schwach aufgeladene Berlinale eingeläutet. (Mehr dazu unten.)

Wobei die Berlinale schon zur Eröffnung gut mit Schlagzeilen auffuhr.

Die Berufung Jeremy Irons' zum Jurypräsidenten ist extrem umstritten und von der Festivalleitung verteidigt worden[1]; beim ersten Leiter der Berlinale Alfred Bauer wurden durch jüngste Recherchen Verbindungen zum Nationalsozialismus nachgewiesen und der nach ihm benannte Preis wurde dieses Jahr ausgesetzt[2]; bei der Eröffnungsgala wurde mit einer Schweigeminute an die Opfer des rassistisch motivierten Anschlags in Hanau gedacht.[3]

Gerade lese ich einen taz-Artikel zum Regisseur Ilja Chrschanowski, dessen Projekt DAU auch auf der Berlinale mit drei Filmen vertreten ist. Laut Vorwürfen von Frauen soll Chrschanowski seine Macht missbraucht haben. Seinen Wettbewerbsbeitrag werde ich auch noch schauen.

Und noch während ich diesen Beitrag schreibe: Harvey Weinstein wurde soeben der Vergewaltigung und sexuellen Nötigung schuldig gesprochen.[4]

Drei Jahre ist der Start von #MeToo jetzt her, zunächst mit immenser, transformativer Kraft. Dann irgendwann zäher und zäher, sodass man leicht dem Gefühl erlegen könnte, es täte sich nichts mehr. Gestern habe ich The Assistant gesehen, der dieses Thema behandelt. Nach dem Film schlich ich ganz erschüttert aus dem Kino.

Es tut sich was, und diese 70. Berlinale läuft definitiv unter einem politischen Vorzeichen. Eine Woche geht das alles noch. Mal schauen, was sonst noch so zusammenkommt.

Bao-My, 18:33, 24. Feb. 2020

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Feb 23. Der Edit-a-thon mit Art+Feminism zur Berlinale 2020.

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Impression des Edit-a-thons bei Wikimedia am Tempelhofer Ufer, Berlin.

Fetter Gender Gap auch da, wo sich zuerst mal nicht Menschen vermuten lassen: Wikipedia (Wikimedia) strotzt vor männlicher Dominanz. 90% der Beitragenden sind männlich, im deutschsprachigen Wikipedia-Raum sind 84% aller Biografien über Männer. Hui. (Meine Mitstreiterin Charlie des Alpes hat darüber mit dem rbb gesprochen und bisschen mehr recherchiert als ich, findet sich hier.)

Um das auszugleichen, gibt es Initiativen wie beispielsweise WomenEdit. Zur Berlinale dann eine Nummer größer: Drei Tage lang kommen Menschen in den Räumlichkeiten von Wikimedia zusammen, um zusammen zu schreiben, editieren, sich den Rücken zu stärken. Und selbst wer nicht in Berlin anwesend ist, konnte auch von zu Hause aus online teilnehmen. Ziel: Die Sichtbarkeit von Frauen* in Wikipedia erhöhen, indem sie überhaupt erwähnt werden.

Und das ist dringend nötig. Ironischerweise gab es über die Geschäftsführerin (!) der Berlinale Mariette Rissenbeek vor dem Edit-a-thon nicht mal einen Wikipedia-Artikel. Ganz zu schweigen von den Frauen* in der Jury, Sektionsleiterinnen, weibliche* Filmschaffende.

Ich habe am Samstag und Sonntag vorbeigeschaut: Was für eine wahnsinnige Energie, wenn gut 35 Teilnehmende vor Ort und zahlreiche Menschen online zusammen daran arbeiten, Frauen* für ihre Leistung zu würdigen und in Wikipedia eingehen zu lassen. Teilweise bloß das Geräusch von Tastenanschlägen, aber oft: Lachen, angeregte Diskussionen, Vernetzung.

Es sind in drei (!) Tagen fast hundert (!!) Artikel erstellt worden. Die Liste findet sich hier.

Aber das Editieren geht weiter und die Berlinale auch. 100-Artikel-Marke diese Woche noch knacken? Sehr wahrscheinlich. Wer dazu noch beitragen möchte, kann sich durch diese Liste inspirieren lassen.

Der Edit-a-thon wäre nicht so wunderbare Sache geworden ohne die ganzen Beteiligten — große Achtung vor diesem ehrenamtlichen Engagement an einem Wochenende! An dieser Stelle möchte ich aber noch kurz die Organisatorinnen erwähnen, durch die alles überhaupt zusammengekommen ist: Grizma, Medea7, Elena Patrise, 18quirl08, IvaBerlin und Satu Katja — ich habe einen Heidenrespekt vor eurer Arbeit!

Bao-My, 23:09, 23. Feb. 2020

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Ich bedanke mich im Namen meiner Mitstreiterinnen für die Lorbeeren! ;D Nicht ganz in 3 Tagen, die knapp 100 Artikel, es wurde schon etwas vorgearbeitet von Online-Teilnehmerinnen und -Teilnehmern. Dennoch müssen wir uns mit unserem Ergebnis wohl nicht verstecken. Zusätzlich hatten wir auch noch eine sehr große Gruppe neugieriger Wikipedia-Erstlinge, die wir mit dem System vertraut gemacht haben. Und einige von ihnen haben sich direkt vom Wiki-Virus anstecken lassen und losgearbeitet! --Grizma (Diskussion) 19:01, 24. Feb. 2020 (CET) : Ich schließe mich mal an, auch wenn der Ping offenbar noch Verbesserungsbedarf hat - das kläre ich an anderer Stelle: Es hat mir Freude bereitet, wie aktiv und intensiv Ihr da in Berlin gearbeitet habt. Ich habe auch mündliche Berichte davon gehört, dass es sehr gut lief. Alles in allem - ein guter Plan mit einer noch besseren kollaborativen Umsetzung! Auch Dir als Bloggerin danke für Deine Beiträge! Grüße von Iva 11:22, 26. Feb. 2020 (CET)
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Feb 21. Roundtable Shifting the Narrative: Share your power. 50/50, ganz einfach.

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Geschäftsführerin der Berlinale Mariette Rissenbeek hielt ebenfalls eine Keynote.

Wichtiges Rahmenprogramm der Berlinale: Die Organisation Pro Quote Film veranstaltet einen Roundtable in der französischen Botschaft. Shifting the Narrative, auf dem Plakat groß: 50/50, #ShareYourPower.

Narration dient zur Überwindung und Veränderung festgefahrener Denkweisen, wie zum Beispiel: Frauen* sind nicht fähig genug für die Branche. Neben institutionellen Hürden für weibliche Filmmachende folgt daraus ein weiteres großes Manko: Das verlorene Potenzial für die Filmbranche, alles inklusiver und diverser zu gestalten. Denn Narrativen schaffen die Wirklichkeit mit, in der wir uns bewegen.

Es geht nicht darum, das jetzige System durch ein anderes zu ersetzen — damit käme niemand ein Stück weiter. Sondern einfach in Richtung Geschlechtergerechtigkeit und -gleichheit zu arbeiten. (Dazu fällt mir ein Tweet ein, den ich irgendwann gelesen hatte: No, feminism doesn't hate men. How did a movement become so misunderstood to a point where it is still about men?)

Vor dem öffentlichen Roundtable tagten verschiedene Vereine und Bewegungen, um sich auszutauschen und Forderungen aufzustellen, mehr dazu hier. Ein paar Takeaways:

  • Für indigene Filmemacher*innen geht es viel mehr als „nur“ ums Filmemachen. Es ist eine der wichtigsten und letzten Ausdrucksformen ihres Protestes und ihrer Sichtbarkeit. Für sie geht es ums Überleben.
  • Machtpostionen sollen horizontal in die Breite aufgefächert werden, nicht hierarchisch senkrecht.
  • Wenn wir von mehr Teilhabe sprechen: Wer ist überhaupt Wir? Unterrepräsentierte, marginalisierte Gruppen sollen selbst sprechen und sich selbst definieren können.
  • Gleicher und fairer Zugang zu Ressourcen jeglicher Art — von Personal bis zu Geldtöpfen für Filmförderung.
  • Möglichst viele Leute erreichen, und möglichst alle ins Boot holen. Banden bilden.
  • Auf Seiten der professionellen Riege: Möglichst heterogene Jury, mehr Diversität auf Entscheidungsebenen. Der professionelle Nachwuchs soll mehr ausgebildet, mehr für intersektionale Themen sensibilisiert werden.

Bao-My, 17:27, 21. Feb. 2020

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Feb 20. Sichtbarkeit.

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Flyer zum Art+Feminism Edit-a-thon.

Hurra, wir sind vertreten! Ich arbeite an meinen Beiträgen und ordne meinen Kalender und sehe die Flyer im Pressezentrum, hier und da an Tischen in Spielstätten. Besonders interessant: Den dicken Stapel zur Gender Evaluation. Werfe mal einen Blick rein, sobald ich bisschen Luft bekomme.

Gender Evaluation 2020.

Bao-My, 22:03, 20. Feb. 2020

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Feb 20. Und auf einmal ist sie hier.

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Die Berlinale bricht mit einer elektrisierenden Wucht in den Berliner Alltag ein. In eine Stadt, in der sich sonst niemand um irgendwas schert, wegen des Überangebots an Veranstaltungen. Jede*r unbeirrt sein*ihr Ding macht, weil man sonst mit der Reizüberflutung nicht klarkommen würde.

Von heute auf morgen sind alle Bushaltestellen mit Plakaten zugepflastert und kein Mensch kann behaupten, nicht die Angst zu haben, in den nächsten Tagen etwas zu verpassen. Bei der Pressekonferenz werden dir neun Booklets in die Hand gedrückt, die du alle dankend annimmst, und mit jeder Seite wächst deine Verzweiflung und die Zweifel, bei dem Heer an Information noch durchzublicken.

Die Website der Berlinale schmiert fast ab, als der Ticketverkauf losgeht. Alles ist in genderneutraler Form formuliert und wenn nicht, kommt das Gendersternchen mit ins Spiel. Anmeldefläche: Benutzer*innenname. Mein Herz singt.

Okay, Schlachtplan. Welche Filme nehme ich mit? Welche Pressekonferenzen? Welche Talks? Wie kann ich alles so arrangieren, dass ich möglichst viel mitnehme?

Neben mir liegen sechs Programmhefte, ich gleiche fünf Tabs miteinander ab, ich stiere drei Stunden auf mein MacBook — und komme zu dem Schluss, dass die Berlinale der perfekte Anlass ist, an meiner Entscheidungsfähigkeit zu feilen. Und mich in Spontanität zu üben. Es geht los.

Bao-My, 16:39, 20. Feb. 2020

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Jan 09. Was gibt's hier zu lesen?

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Letztes Jahr habe ich die Berlinale besucht, im privaten Rahmen, mit Freund*innen, mit Kommiliton*innen — ich habe sie alle vergrault. Ich kann es ihnen nicht übel nehmen: Ich raune ihnen mitten im Film zu, dass dieser in Minute dreißig immer noch nicht den Bechdel Test bestanden hat, bestöhne den so offensichtlichen Male Gaze oder pruste los, wenn Frauen* dämlich stereotyp dargestellt werden. Und dann will ich am Ende den Film besprechen und niemand will mit mir den Film derart tief diskutieren.

Ich bin keine gute Begleiterin, wenn es ums Filmeschauen geht. Aber anders geht's nicht. Ich muss meine unfreiwillige Rezeptionsleistung loswerden. Dankenswerterweise jetzt mit spitzer Feder bei und für Wikipedia. Danke an Grizma und Charlie des Alpes und den vielen tollen Teilnehmerinnen des Berliner WomenEdit-Treffens!

Mein Schreibtisch.

Und hier schreibe ich. Manchmal. Vielleicht in nächster Zeit irgendwo um den Potsdamer Platz. Aber sonst eigentlich hier.

Bao-My, 20:00, 09. Jan. 2020

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Persönliche Einschätzungen zu den diesjährigen Berlinale Filmen ohne neutralen Anspruch — vor allem mit feministischer Einfärbung und einem extra-wachen Auge auf intersektionale Aspekte.


Wettbewerb: DAU.Natasha

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Als ein Kollege zwei Tage nach der Pressevorführung verkündete, er wolle sich nun DAU.Natasha ansehen, war Luft durch die Zähne pressen wohl noch meine mildeste Reaktion. Er schlug sofort an: „Wieso?“ - „Es ist leider ein großartiges Werk, aber die Entstehungsbedingungen schreien mir zu, dass ich den eigentlich nicht gutheißen soll.“ - „Man sollte den erst mal ohne den Kontext bewert-", setzte er an, woraufhin ich ihn sofort unterbrach: „Ich weiß, aber du wirst sehen, es ist verdammt schwierig."

Das epochale Ding geht knapp dreieinhalb Stunden und ist eine Filmauskopplung aus dem Mammutprojekt DAU der russischen Regisseure Ilja Chrschanowski und Jekaterina Oertel. Natasha (Natalja Bereschnaja) und Olga (Olga Schkabarnja) arbeiten in einer Kantine und bewirten tagein, tagaus Männer (und zuweilen eine Frau) in militärischen Uniformen, deren Gespräche wie ein Wechselspiel gebellter Befehle anmuten. Nach und nach zeichnet sich ab, dass es sich hierbei um hochrangige Mitglieder einer geheimen Institution handelt, die mit dem französischen Wissenschaftler Luc (Luc Bigé) an der Optimierung von Soldaten experimentieren und dafür auch entsprechend Lebendmaterial benötigen. Was wir aber vor allem sehen, ist Natashas Leben, das drum herum organisiert ist.

Grenzüberschreitend in allen Aspekten

Bei allem, was die Darsteller*innen tun: Die Kamera wird radikal draufgehalten. Ein Kammerspiel mit perfektionierter Ästhetik, wird der Film betitelt. Wir sehen Natasha und Olga beim Haareraufen; beim Aussöhnen; die sich entwickelnde Verbundenheit, wenn sie tratschen; beim (echten) Sex; beim Kotzen, wenn sie sich Wodka reinkippen. Und später, wie Natasha im Verhör die Kleidung vom Leib gerissen, ihr mit Vergewaltigung gedroht wird, und sie dazu genötigt wird, sich eine Glasflasche einzuführen. Nur ein paar Skizzen der psychischen und teilweise auch physischen Folters.

Es ist nicht schwer, sich die Anschuldigung gegen den Film vorzustellen: Völlige Überarbeitung, Kuschen vor Menschen an der Hierarchiespitze, sexuelle Belästigung, sektenhafte und totalitäre Strukturen.[5]

Man sieht die Bilder quasi vor sich, auf der Leinwand.

Und das stößt sauer auf.

Denn gleichzeitig lässt sich auch sagen: Ein Kammerspiel, aber auch eine intellektuelle, durchstilisierte Big Brother Version in einem riesigen Kunstcontainer namens DAU. In der Fiktion und Realität sich nicht mehr auseinanderdividieren lassen. Die Darsteller*innen sind Laien, ihre Figuren tragen ihre echten Namen, das Drehbuch ist quasi non-existent. Das, was sich da entfaltet, ist echt, in einem konstruierten Setting mit minimaler Handlungsanweisung.

Eine Frau im Sog patriarchaler Machtstrukturen voller Gewalt

Natasha ist indes das Opfer ihrer Umstände, in denen ihr Handeln direkt abgestraft wird. Durchdringend wird die Furcht vor der Willkürlichkeit, die sich pfeilspitz ins Mark bohrt.

Trotz aller Demütigung schimmert dennoch Natashas Widerspenstigkeit auf: die Unerschütterlichkeit, sich ein Quäntchen Würde nicht absprechen zu lassen. Gegen zu halten. Eine Qualität, die leider bei der omnipräsenten strukturellen Repression gar nichts bewirkt.

DAU.Natasha ist ein absoluter Ausnahmefilm der Extreme, in jeglicher Hinsicht. Und deswegen so unangenehm genießbar und verwerflich.

Den Kollegen traf ich tags darauf wieder. „Und?“ - „Ein brachiales Werk.“ - „Verstehst jetzt, was ich meinte?“ - „Klar. Meine Kollegin will deswegen, dass ich den Film zerreiße.“ - „Wirklich jetzt?“ - „Ja. Aber ich kann nicht. Dafür ist der Film zu gut.“ - „Hat sie ihn gesehen?“ - „Nee, aber sie steht über mir.“ Ratloses Schweigen. Dann fährt er fort: „Ich werde es trotzdem nicht tun. Und sie wird ziemlich sauer sein, aber das Werk ist zu gut.“ - „Das Kritische sollte man auf jeden Fall erwähnen.“ - „Ja, das absolut."

Bao-My, 01:37, 02. Mär. 2020

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Wettbewerb: Domangchin yeoja / The Woman Who Ran

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Rennen tut in Domangchin yeoja niemand, vielmehr schlagen alle Women im Film Wurzeln. Eine entschleunigende Perle in Zeiten rasenden Stillstands.

Schauspielerin Kim Min-hee.

Gamhee (Kim Min-hee) nutzt die Geschäftsreise ihres Mannes, um in Seouler Vororten alte Freundinnen zu besuchen: Young-soon (Seo Young-hwa), Su-young (Song Seon-mi) und zufällig Woo-jin (Kim Sae-byuk). Sie alle hat Gamhee seit mindestens fünf Jahren nicht mehr gesehen — denn seitdem sie verheiratet ist, hat sie keinen Tag ohne ihren Mann verbracht. In den Wiedersehensgesprächen erfährt Gamhee nicht nur viel von ihren Freundinnen, sondern lotet das Verhältnis auch zu sich selbst aus.

Oberflächliches führt mehr denn je in die Irre

Böse Zungen könnten behaupten, Dongmangchin yeoja hat den Charme eines Studierendenfilms: Karges Setting, minimal invasiver Schnitt, in Sachen Ton ist da auch nicht was ganz sauber.

Die Dialoge entfalten sich aber mit so einer authentischen Leichtigkeit im Raum, die zweifelsohne die Handschrift von Regisseur (und auch sonst für alles andere verantwortliche Tausendsassa) Hong Sang-soo trägt. Anfangs holpern die Frauen ins Gespräch, wenn sie nach Jahren zunächst alles Smalltalk abklappern, bis sich neue Ebenen aufmachen. Doch unter dem heiteren Plausch lässt sich viel Ungesagtes erhaschen. Die ganze Fragilität menschlicher Kommunikation schwingt in den belang-, aber nicht bedeutungslosen Phrasen mit. In einem Dialog subtil durch die ganzen spezifischen Erinnerungen navigieren und doch das gesamte Leben einpacken — meisterhaft inszeniert von allen Akteur*innen. Die Absurdität zeichnet sich bereits in der ersten halben Stunde ab, als ein Nachbar mit bei Young-soon klingelt und eine passiv-aggressive, fast schon existentialistische Aushandlung aufgrund einer streunenden Katze brodelt. Aber die Fassade aller Gesprächsteilnehmenden: katzenfreundlich. Sowohl bei der Pressevorführung als auch der Weltpremiere gab es dafür Szenenapplaus.

Schmale Gradwanderung zwischen konventionellem und ungewöhnlichem Film

Eigentlich erfährt man nur ganz wenig von Gamhee; mit jeder Konversation fällt ein Puzzlestück aus ihrem Leben an seinen Platz. Sie bleibt am Anfang unangenehm blass, was unter anderem daran liegt, dass sie das Gesprächj führt und die Fragen stellt: leicht naiv, aber immer offen und aufmerksam. Gamhee scheint eine Projektionsfläche zu sein, die erst nach und nach ihre Konturen gewinnt. Kim Min-hee spielt sie mit nahbarer Unergründlichkeit, in ihren geschmeidigen Bewegungen verbirgt sich Verletzlichkeit und Sturheit. Diese Widersprüchlichkeiten erden sie — und machen sie menschlich.

Die Frauen reden größtenteils über die aktuellen Männer in ihrem Leben. Mit wem sie verheiratet sind, was der Ex so macht oder wie es mit der neue Affäre läuft. Eigentlich wäre diese Männerzentriertheit ein alter, abgewetzter Hut und das könnte sich der Film auch zurecht vorwerfen lassen — würden diese Gesprächssequenzen nicht ständig von merkwürdigen Männern mit noch merkwürdigeren Anliegen gestört werden. Doch sie alle werden unmissverständlich bestimmt weggeschickt. Obwohl Männer den Gesprächsstoff ausmachen, heißt es nicht, dass sie auch den Platz im gesamten Leben der Frau einnehmen. Männer beschäftigen die Frauen. Frauen stehen aber für ihrs eigenen Bedürfnisse, ihr unabhängiges Begehren ein. Aufdringliche Männer abschmettern: Hong Sang-soo gibt uns drei urkomische Abfertigungswege an die Hand.

Keine Rollen, sondern Menschen

Pressekonferenz Domangchin yeoja.

Auf der Pressekonferenz fragt ein Journalist, wie es denn sei, eine starke Frau zu spielen.

Kurzer Exkurs: Mir ist immer noch vollkommen schleierhaft, wie Menschen auf die Idee kommen, so eine Frage zu stellen. Müsste die Personen einen Alien, ein Avatar, ein Seeungeheuer verkörpern, okay. Aber starke Frau? Ungefähr so belanglos und inhaltsleer wie: Wie ist es denn, eine*n Rothaarige*n zu spielen?

Denn die Frage impliziert, dass die Frau nur in eine Rolle schlüpft, und diese Stärke wie eine Ritterrüstung angelegt wird. Es negiert, dass Frauen natürlicherweise diese Stärke auch besitzen, und entlarvt das implizierte Bild der schwachen Frau. Die Frage mutet feministisch an, zementiert aber das aktuelle Rollenverständnis. Das Wortpaar „stark“ und „Frau" ist ein vergiftetes Kompliment.

Und als ob das nicht schon bedeutungsschwanger genug wäre, fügt er noch hinzu: Sowas sei ja bisher immer den Männern vorbehalten worden. Ja, wir haben verstanden. Worauf die Nebendarstellerin Seo Young-hwa mit entwaffnender Bescheidenheit antwortete: "Ich sehe nur Menschen."[6]

Der Film geht ganz leichtfüßig und beschwingt, jedoch ohne komplett aus dem Raum schweben. Er tut nicht direkt weh, sondert scheuert; lässt uns wehmütig mitfühlen und fragen, ob unser jetziges Leben alles so seine Richtigkeit hat. Wie in einem Café zu sitzen und dem Gespräch am Nebentisch mitzulauschen.

Bao-My, 12:41, 29. Feb. 2020

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Forum: Futur Drei / No Hard Feelings

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Futur Drei wird nicht mehr wegzudenken sein, wenn es um die Lebensrealität von People of Color in Deutschland geht. Vielleicht sogar zu einem geflügelten Wort erhoben wird, welches man nicht mehr näher erklären muss.

Parvis (Benjamin Radjaipour) wird nach einem Ladendiebstahl zu Sozialstunden in einem Geflüchtetenheim verdonnert. Passt so gar nicht in seinen Lebensentwurf: Zwischen Raves und Grindr Dates findet sich eigentlich keinen Platz für etwas anderes. Er quartiert sich bei seinen Eltern im Dachgeschoss und schlägt sich, gewollt isoliert, durch den Alltag im Heim. Bis er in das Leben des iranischen Geschwisterpaars Amon (Eidin Jalali) und Banafshe (Banafshe Hourmazdi) hineinstolpert. Neben der ständigen Konfrontation mit der iranischen Zuwanderungsgeschichte seiner Eltern und deren Einfluss auf Parvis’ Identität gesellt sich noch ein weiteres Wirrwarr: Seine Anziehung zu Amon, die aber auch nicht ganz unkompliziert bleibt.

Der Film zeigt die gelebte, gefeierte Queerness von Parvis, wie man es sich nur wünscht, und die erlernten Unterdrückungsversuche in einer feindlichen Umwelt, wie Amon sie erfährt. Wie beide das Begehren aushandeln und austarieren, sieht man in dem tänzelnden Zueinanderfinden mit Coming-of-Age Anleihen. Wer den Film aber nur darauf reduziert, lässt gewaltig was aus.

Regisseur Shariat mit der Filmcrew nach der Weltpremiere. Betont wierd immer wieder die Gemeinschaftsarbeit mit dem Kollektiv JÜNGLINGE.

Sichtbarkeit der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte

Die Menschen im Mittelpunkt, das sind die, die nicht zur weißen Mehrheitsgesellschaft gehören. Die vor einigen Dekaden nach Deutschland gekommen sind. Parvis’ Eltern (gespielt von den echten Eltern des Regisseurs Faraz Shariat) sind vor dreißig Jahren emigriert und haben sich mit zwei Schichtenjobs über Wasser gehalten, bis sie einen kleinen Supermarkt übernehmen konnten. Das sind Menschen, die dann unter Begriffen „Ausländer“ und „Einwanderer“ abgehandelt und dadurch ein Stück weit entmenschlicht werden. Aber auch sie sind Individuen; haben Ängste, Träume, Sehnsüchte; sehnen sich nach ihrer Heimat Iran und befürchten eine große Kluft zwischen ihrer und Parvis’ Lebensrealität, die sie letztlich entfremden könnte.

Aus all dem spricht die fehlende Anerkennung der Gesellschaft und damit die missachtende Geste der Selbstverständlichkeit. Dabei muss man mit aller Deutlichkeit sagen: Das sind Menschen, die mit nichts gestartet sind, um sich eine bessere Existenz für sie und ihre Kinder aufzubauen. Die stillschweigend alle Fremdenfeindlichkeit, allen Rassismus hingenommen haben, weil sie sich als „Gast“ nicht in der Position gesehen haben, sich zu wehren. Die geflissentlich übersehen oder schlichtweg einfach nicht wahrgenommen wurden. Die so „gut integriert“ sind, dass selbst ein Horst Seehofer nichts auszusetzen hätte. Ihre Geschichte wird endlich aufgegriffen.

Auch wenn Parvis in Deutschland geboren wurde, bleibt er nicht frei von der Konfrontation mit der Herkunftsgeschichte. Während er in einem Gespräch für eine Frau übersetzen soll, der die Abschiebung droht, schaut er hilflos in die erwartungsvollen Gesichter der deutschen Beamt*innen: „Ich verstehe ihren Dialekt nicht.“ Bei einem nächtlichen Abenteuer mit Banafshe und Amon, wo alle drei im Morgengrauen auf einem Parkdeck rumkullern, erzählt Parvis von seinem Selbstverständnis: Nach einem Besuch im Iran kam er nach Deutschland zurück und hörte auf, sich Iraner zu nennen. Nicht ganz Deutsch, nicht ganz Iranisch: Das ist die Zerrissenheit, die Parvis auf Schritt und Tritt begleitet.

Ungerechtigkeiten nicht einfach hinnehmen und auf Rechte pochen

Futur Drei prangert auch den toxischen Mechanismus an, der so tief im Diskurs vergraben ist: Damit dir etwas zusteht, musst du besonders fleißig, besonders brav, extrem assimiliert sein — sonst wird dir alles abgesprochen, was für weiße Deutsche bedingungslos daherkommt. Das bekommen Parvis, Banafshe und Amon auf unterschiedlichste Art und Weise am eigenen Leib zu spüren.

Banafshe lässt sich in dem Aspekt überhaupt nicht kleinkriegen. Sie ist nicht nur bloße Nebenfigur in der Liebesgeschichte zwischen Parvis und Amon. In ihrer Darstellung wird unmissverständlich klar: Sie ist keine Randperson bei dem Trio, sondern die treibende Kraft und das Bündel Energie, was die drei zusammenhält. Als ihr Gegenüber bei einem Date für sie das Essen bestellt, ohne sie zu fragen, entgleisen ihre Gesichtszüge. Offensichtlich nicht genug Hinweis für den Typen, bis sie dann klarstellt: „Ich dachte, du würdest fragen.“ Auch von klaren Hierarchiemustern lässt sie sich nicht einschüchtern. Sie wird mit einem existenziellen Problem konfrontiert, wo ihr weißer Boss Abhilfe schaffen könnte. Zu ziemlich ekelhaften, sexistischen Bedingungen. Als Zuschauende schmerzt es fast schon physisch und man sieht schon das Unheil seinen Lauf nehmen — bis sie ihn ziemlich laut auf Farsi verflucht und den perplexen Chef stehen lässt.

Für sich einstehen, trotz der internalisierten Denkmuster, als marginalisierte Gruppe gar nicht erst aufzumucken. Was für ein großartiges Rollenvorbild.

Wegweisender Kinofilm

Es sind immer kleine Momente, bei denen PoC mitfühlend aufstöhnen und Weiße aus Fremdscham unruhig in ihren Sitzen hin und her rutschen. Zum Beispiel, als Parvis seinen Namen bei der Behörde zwei Mal wiederholen muss und dann auch noch zwei Mal langsam ausbuchstabieren muss. Oder als Parvis’ (weißes) Date sagt: „Ich hatte noch nie was mit einem wie dir“ und der ganze Saal kollektiv den Atem anhält. Überhaupt kommen weiße Deutsche ganz selten vor. Um sie geht es nämlich auch nicht.

Das ist etwas, dass Schauende auch einfach aushalten müssen. So wie rassifizierte Menschen ihre Darstellung (wenn sie überhaupt vorkamen) durch die Augen und Vorstellung weißer Menschen haben hinnehmen müssen, geht es um die Aneignung der Narrative. Um das Zurückgewinnen der Deutungshoheit und das Reclaiming unserer Körper: Es ist nicht nur ein Film über uns, sondern auch von uns. Und vor allem: Die Sichtbarkeit von People of Color in Deutschland — zu unseren Konditionen.

Futur Drei wirft die ganz großen Themen in den Ring, die klotzig und schwer zu verdauen sind und unsere Denkstrukturen im Fundament erschüttern. Dass es einen nicht erdrückt, verdankt man den schillernden Figuren und gewitzten Dialogen, aber auch den stillen und leisen Bildern voller Leichtigkeit und Sehnsüchten des flirrenden Sommers. Es ist der fantastische Lösungsentwurf für das verminte Feld des Geflüchteten- und Zugehörigkeitsdiskurses und Berührungsängsten vor der queeren Szene. „Aktivistisches Popcornkino“[7], wie Shariat es selbst bezeichnet.

Es sind die Lebensrealitäten voller Zerissenheit, die am Ende zusammengeführt werden. Futur Drei als Tempus: Die Person, die ich heute bin; die ich morgen sein werde; und die ich hätte sein können, wären gewisse Lebensumstände anders verlaufen. Ein ganz großer Kinowurf.

Bao-My, 14:23, 27. Feb. 2020

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Wettbewerb: Le sel des larmes / The Salt of Tears

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Oh boy. Wortwörtlich. Auch nach einer Nacht darüber schlafen und den Film sacken lassen.

Eigentlich wollte ich den Film einfach nur ohne Notizblock anschauen und gar nicht darüber schreiben. Wieder zwei große Säle im CinemaxX, in meinem sitzt vorne der Jurypräsident Jeremy Irons, wispert es durch die Reihen. Irgendwie drollig, dass wir alle in diesem Raum unsere Meinung zu dem Film kundtun werden, seine aber so viel mehr wiegt. Zumindest, was das Renommee in der Branche angeht.

Nach dreißig Minuten Schauen krame ich nach Papier und Stift. Ich muss. Es ist wirklich unerträglich.

Anyway, der Film: Den jungen Luc (Logann Antuofermo) verschlägt es von der Provinz nach Paris, um an der namhaften École Boulle künstlerischen Möbelbau zu studieren. Nahezu schicksalshaft kreuzt sich sein Weg bei diesem Lebensabschnitt mit drei Frauen, die jeweils auf ihre eigene Art zeigen, was Luc mit ihnen gewinnt — Djemila (Oulaya Amamra) aus der Banlieue, Geneviève (Louise Chevillotte) aus Jugendtagen, Betsy (Souheila Yacoub) aus dem modernen Großstadtleben. Und was er durch seine eigene Unentschlossenheit und Feigheit verliert.

Gemerkt, dass ich die Frauen im Film gerade beim Namen erwähnt habe? Damit räume ich ihnen schon mehr Eigenständigkeit ein und Gesehenwerden, als der Film es in hundert Minuten tut.

Frauen passiv, Mann aktiv

Die drei Frauen werden durch und durch immer dem pseudo-intellektuellen Luc untergeordnet: haben keinen Schulabschluss, sind Krankenschwester, und— tja, was macht Geneviève eigentlich, außer die wieder aufgeflammte Jugendliebe zu sein?

Frauen in diesem Film machen nichts. Sie handeln nicht selbst. Sie warten, werden angesprochen; ihr Körper wird genüsslich angeschaut (male gaze straight aus dem Lehrbuch). Ihr einziger Zweck ist es, Lucs Bedürfnisse zu erfüllen. Und das nach ewiggestrigen Schablonen: Die naive, keusche Frau voller jugendlicher Schönheit; die unterwürfige und geduldige Hausfrau, die ihm jeden Wunsch aus den Augen abliest; die verwegene, ebenbürtige Femme fatale. Bilder, die an Eindimensionalität nicht zu übertreffen sind.

Ah, einen anderen Zweck gibt es doch noch: Sie sind Trophäen. Luc und seine Kommilitonen reden über Frauen, wenn sie protzen, wer wen fickt, welchen Typ Frau sie bevorzugen und dass nichts über Bordelle geht. Als Betsy und ihre Freund*innen nach dem Feiern von (interessant: PoC-)Männern sexistisch angezischt werden, erscheint der White Savior Luc aus dem Nichts und rettet die Jungfern aus ihrer Not.

Unangenehm: ungescholtenes Davonkommen

Sobald sie (einmal!) für sich einstehen, sanktioniert Luc es mit cholerischen Ausbrüchen. Du willst keinen Sex? Raus aus meiner Wohnung. Du bist schwanger? Klingt nach deinem Problem, denn ich verlasse dich. Du willst deinen Lebensstil durchsetzen? Nicht mit mir.

Puh, denke ich mir, endlich zeigt er seine hässliche Fratze und wenn das nicht ein Anlass ist, ordentlich zurückzufauchen — stattdessen weinen sie ihm hinterher. Wie bitte was?

Muss der Film wirklich solche Narrative bedienen, um zu unterstreichen, was für ein narzisstischer Scheißkerl Luc ist? Uns allen ist so ein Typ Mensch mal untergekommen, dafür reicht ein Wochenende auf Tinder. Es gibt sie zuhauf da draußen, seit Ewigkeiten. Filme dazu auch. Solche Stereotype müssen nicht unbedingt 2020 reproduziert werden.

Es ist schwer, wohlwollend zu sein

Pressekonferenz Le sel des larmes.

Ein moderner, simpler Film, beschreibt der französischer Regisseur-Titan und Drehbuchautor Philippe Garrel sein Werk selbst. Beinhalte viele Geschehnisse seiner Adoleszenz. (Er ist Ende der Vierziger geboren worden, das erklärt zumindest einiges.) Ich wiederum denke mir: Was zum Henker ist an Erinnerungen aus seiner Jugend herauszureißen und in die heutige Zeit quetschen modern?

Ich will dem Film milde gestimmt sein. Versuche mir zu erklären, dass Garrel alten Plot genau deshalb unverändert in das Jetzt übertragen hat, um die größtmögliche Irritation aufzumachen. Um herauszustellen, wie absurd diese alten Frauenbilder, dieser Liebesfilmstoff sind. Um sich darüber lustig zu machen, wie ein Arschloch von Mann durch die Erzählweise zu einem romantischen, sanften Künstlertypen umgedichtet werden kann. Aber dafür fehlt die Abstrafung Lucs. Oder der satirische Kommentar aus dem Off. Oder sonst irgendwas Spitzes. Denn so scheint es wie verdammter Ernst.

Spekulieren bringt nichts, also will ich Garrel selbst fragen. Mein Handzeichen wird gesehen, aufgrund der wie immer knapp bemessenen Zeit wird keine Wortmeldung mehr zugelassen.

Wir sehen nahezu zwei Stunden einem Mann bei seinem Frauenverschleiß zu. Noch mehr Klischees lassen sich nicht unterbringen. Und die Tränen, die Luc am Ende fallen lässt, die weint er um seiner selbst willen.

Auf Fragen zu Ungereimtheiten antwortet Philippe Garrel mit einem Zitat der französischen Regisseur-Legende François Truffaut: Ein Film atmet durch seine kleinen Fehler. Für mich ist dieser Film klinisch hirntot. Lasst ihn sterben. Es ist das letztes Aufbäumen der Dinosaurier der Branche, die vor #metoo ungestört alles machen konnten und jeden Mist als Markenzeichen rechtfertigen konnten. Kuschen ist nicht mehr.

Bao-My, 22:04, 23. Feb. 2020

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Danke für die Warnung! CdA
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Wettbewerb: El prófugo / The Intruder

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"Ein höchst origineller Psycho-Sex-Thriller“[8] hat die Berlinale als Beschreibung stehen, was ungefähr alles und nichts sagt. Tatsächlich ist es ganz schwer zu beschreiben, in welches Genre El prófugo gesteckt werden kann, aber darum geht’s eigentlich gar nicht, denn den Film sollte man sich einfach selbst ansehen. Und er hallt noch lange nach. Trotz der Dauerbefeuerung auf der Berlinale.

Handlung, konkret wie nötig und allgemein wie möglich: Die junge Inés arbeitet in Buenos Aires als Synchronsprecherin und singt in einem Chor. Durch ein tief traumatischen Ereignis wird sie aus der Bahn geworfen und entwickelt Schlafstörungen, Halluzinationen und Panikattacken. Doch das schlägt sich nicht nur auf ihre Psyche nieder. Auch ihre Stimme ist seitdem merkwürdig angeschlagen, und ihr droht ihre Lebensgrundlage wegzufallen. Welche merkwürdige Kraft gewinnt bei Inés da die Oberhand? Und ihre Erlebnisse — speisen diese sich aus ihrem Wachzustand oder lebt sie in ihren Albträumen?

Extreme Emotionen und Unberechenbarkeiten

Vorab: Érica Rivas spielt Inés hervorragend in all ihrer Schreckhaftigkeit, ihren Wechselbädern aus Ausbrüchen, alles in glühenden Tönen und wahnsinnig eindringlich. Trotz der krassen Emotionen vermag es Drehbuchautorin und Regisseurin Natalia Meta, subtil angedeutete Antriebe und Energien lauter zu inszenieren, als Érica Rivas’ schreien könnte (sie tut es ein paar Mal). Die Dialoge offenbaren zwischenmenschlichen Beziehungen in ihrer Absurdität. Es sind Ketten von Kommunikationshindernissen, die so spektakulär schieflaufen, dass man schon das bitterböse Ende absieht, und es dann in eine völlig andere Richtung eskaliert. Unberechenbarkeit, ohne Plottwist mit Rumms. In jeder Szene werden in der Narration einfach irre, abrupte Abbiegungen gemacht.

Und es funktioniert als großartiges Vehikel für die unheimliche Welt, die Meta gekonnt gewoben hat, wo alles fließend ineinander übergeht: allzumenschlicher Alltag und Mystik, getragen von einer vielschichtigen Bildkomposition. Trotz des recht konkreten Entwurfs der Figuren und ihren Eigenheiten bleibt noch so viel Raum, sich selbst im Film zu finden. Was bleibt, ist ein durchgehend klammes Gefühl, eine ungeheuerliche Angst vor einer Umwelt, die einem nur feindlich gesinnt ist.

Film mit gewollten Unklarheiten und Raum für aktuelle Geschehnisse

Pressekonferenz El Prófugo.

Im Drehbuch sei viel von ihr, nur wenig von der Romanvorlage El mal menor von C. E. Feiling, beschreibt Meta auf der Pressekonferenz. Inspiriert habe sie die feministische Welle aus den Ländern, aus denen die Produzierenden kommen (Argentinien und Mexiko), wo diese ins Bewusstsein rückt, dass nicht alles starr und fixiert ist, sondern sehr wohl sanft, im Dazwischen stehend. Ein Kind des Kontextes, in dem wir heute leben. Und sie fände es spannend, einen Film zu dem Thema zu haben, sagt sie nahezu lapidar.

Die Pressekonferenz war leider zeitlich knapp bemessen, und ich habe Natalia Meta noch kurz zwischen Tür und Angel erwischen können, um sie noch kurz zu fragen: Wie sieht es mit der gesellschaftspolitische Ebene aus, macht es Raum für aktuelle Geschehnisse auf, impliziert es eine feministische Aktualisierung?

Wir stehen so blöd, dass die Saaldiener*innen nicht so richtig wissen, wohin sie uns scheuchen sollen. Also bleiben wir im Türrahmen stehen. Natalia Meta holt aus und redet. Irgendwann krame ich mein Handy aus und frage, ob es okay ist, das aufzuzeichnen und zu verwenden. Ja ja, natürlich. Die Reporterin von der DW hinter mir wuselt unruhig hin und her und ich habe sechs Minuten Material, das ich die Tage transkribieren werde.

Bao-My, 13:31, 22. Feb. 2020

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Eröffnungsfilm: My Salinger Year

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Prädikat Eröffnungsfilm ist auf jeden Fall eine Ansage. Den Film, den alle schillernden Gäste am ersten Abend sehen. Die filmische Einleitung zu einem "glänzenden Auftakt" der Berlinale: My Salinger Year.

Ich starre im CinemaxX gegen die Vorhänge. Zwei Säle für die Pressevorführung, pickepacke aus den Nähten platzend.

1995: Die eifrige Literaturstudierende Joanna Rakoff (Margaret Qualley) zieht es nach New York. Sie will selbst schreiben, Lyrik publizieren, die kreative Luft der Stadt einatmen. Da das alles noch kein Geld einbringt, fängt sie kurzerhand als Assistentin bei der berüchtigten Literaturagentin Margaret (Sigourney Weaver) an, die den scheuen Autor J.D. Salinger vertritt. Joannas einzige Aufgabe: Seine Lesendenbriefe nach Vorlagen abfertigen. Aber dabei bleibt es nicht, denn dafür birgt Joanna größere Ambitionen.

My Salinger Year, basierend auf (der echten) Joanna Rakoffs Memoiren, überrascht vor allem mit Gradlinigkeit. Die Kamera schifft die Narration in den sicheren Hafen, bietet bei der Erzählung der Lesendenbriefe jedoch angenehme neuartige Leckerbissen. Irgendwie rund, aber irgendwie auch betäubend.

Langweilig widerstandslos

Die Buchvorlage in Zusammenarbeit mit der Autorin umgesetzt: New York City Mitte der neunziger Jahre, so detailverliebt dargestellt, dass eine Journalistin in der Pressekonferenz die authentische Umsetzung hervorhebend lobt. Der Film ist vor allem in Kanada gedreht worden, entschuldigt sich der Regisseur und Drehbuchautor Philippe Falardeau charmant-entwaffnend. Mit einer starken Performance von Margaret Qualley und Sigourney Weaver — die aber nicht über die flach gezeichneten Figuren hinwegtäuschen können. Die mürrische Chefin, die am Ende doch weichgeklopft wird. Der Freund, der sich doch nicht als Mr. Right rausstellt, und den Joanna selbstbewusst abschießt. Show, don’t tell? Fehlanzeige.

Der Film plätschert ein wenig seelenlos vor sich hin. Formal solide, doch thematisch ein wenig willkürlich zusammengeflickt. Geht es nun um die Liebe zur Literatur, ihre Kraft, Emotionen auszudrücken? Für sich einzustehen? Ungeachtet vom Alter? Alles ein bisschen. Alles angerissen, die Handlungsstränge nur zur Hälfte gefahren: Der Film zerfällt in alle Richtungen. Klassisch gestrickt, mit erwartbaren Herausforderungen und üblichen Fallhöhen.

Für politische Message okay, für Berlinale enttäuschend

Pressekonferenz My Salinger Year am Eröffnungstag (20.02.2020). V.l.n.r.: Philippe Falardeau, Sigourney Weaver, Margaret Qualley, Joanna Rakoff, Aurélie Godet (Moderation).

Lobenswert ist jedoch die diverse Besetzung. In den Hauptrollen führen zwei Frauen, in den Nebenrollen finden sich Menschen, die sonst nicht so oft auf der Leinwand glänzen dürfen: Menschen jenseits der Sechzig und PoC. Philippe Falardeau betont in der Pressekonferenz die Zusammenarbeit mit Margaret Qualley — er habe mit ihr nach den ersten Entwürfen den Skript nochmal gut umgeworfen. Auch sei das Drehteam vornehmlich mit Frauen besetzt worden. (So, wie dieser Satz aber dahingesagt wurde, würde ich glatt annehmen, dass es mit bisschen Umständlichkeiten verbunden war.)

Das ist vielleicht der einzige politische Mehrgewinn, den man dem Film abringen kann: Seine Strahlkraft bei der Pressekonferenz. Die Botschaft: Eine Coming of Age Story, die eine Mentor*innenschaft zwischen zwei Frauen zeigt. Vier Plätze für die Filmbeteiligten, drei davon Frauen, nur einer davon ein Mann. Die feministische Münzung des Entstehungsprozesses. Ein wichtiges Signal in der Filmbranche. Eine eher schwache Taktangabe für das Festival.

Bao-My, 20:33, 21. Feb. 2020

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Einzelnachweise

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  1. Berlinale-Leitung verteidigt Jury-Chef Jeremy Irons. Abgerufen am 24. Februar 2020.
  2. 18.02.2020 Berlinale beauftragt historisches Gutachten zu Alfred Bauer und verleiht zum 70. Jubiläum einen Sonderpreis. Abgerufen am 24. Februar 2020.
  3. 20.02.2020 Berlinale Eröffnung: Schweigeminute für die Opfer von Hanau. Abgerufen am 24. Februar 2020.
  4. Harvey Weinstein wegen Sexualverbrechen schuldig gesprochen. Abgerufen am 24. Februar 2020.
  5. „Der Fehler im System“. Abgerufen am 1. März 2020.
  6. Domangchin yeoja The Woman Who Ran | Die Frau, die rannte. Abgerufen am 29. Februar 2020.
  7. Aktivistisches Popcornkino. Abgerufen am 27. Februar 2020.
  8. El prófugo. The Intruder. Abgerufen am 22. Februar 2020.