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Ockhams Rasiermesser

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Ockhams Rasiermesser ist in der Wissenschaft das Sparsamkeitsprinzip. Es besagt, dass von mehreren äquivalenten Theorien die einfachste die beste ist. Die englische Bezeichnung lautet Occam's Razor (oder auch parsimony), die lateinische novacula Occami, die traditionelle deutsche Ockhams Skalpell.

Diese Regel wurde zwar nach Wilhelm von Ockham (12801349) benannt, die Idee selbst ist jedoch sehr viel älter. Ockham selbst hat nie ausdrücklich ein solches Prinzip aufgestellt und benannt, sondern es eher implizit in seinen Schriften gebraucht.

Einfach ist am besten

Die bekannteste Formulierung besagt, dass Entitäten nicht über das Notwendige hinaus vermehrt werden dürfen“ (lat. Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem oder sine necessitate). Dieser Satz stammt nicht von Ockham selbst, sondern wurde 1654 von dem Philosophen Johannes Clauberg (16221665) geprägt. Heute würde man es etwa so ausdrücken:

Von mehreren äquivalenten Theorien ist die einfachste allen anderen vorzuziehen.

Das Ockhamsche Sparsamkeitsprinzip fordert, dass man in Hypothesen nicht mehr Annahmen einführt, als tatsächlich benötigt werden, um einen bestimmten Sachverhalt zu beschreiben und empirisch nachprüfbare Voraussagen zu treffen.

Ockhams Rasiermesser ist heute ein Grundprinzip der wissenschaftlichen Methodik.

Auslegung

Nicht ganz klar ist bei Ockhams Rasiermesser, was einfach bzw. kompliziert bedeutet. Es geht weniger um die einfache Nachvollziehbarkeit des Erklärungsmodells, als um die Art und Qualität der erforderlichen unüberprüfbaren Annahmen.

Zum Beispiel sieht man nach einem Sturm einen umgefallenen Baum. Aus den Beobachtungen „Sturm“ und „umgefallener Baum“ lässt sich die einfache Hypothese ableiten, dass „der Baum vom starken Wind umgeweht“ wurde. Diese Hypothese erfordert nur eine Annahme, nämlich dass der Wind den Baum gefällt hat, nicht ein Meteor oder ein Elefant. Die alternative Hypothese „der Baum wurde von wilden, 200 Meter hohen Außerirdischen umgeknickt“ ist laut Ockhams Rasiermesser weniger hilfreich, da sie im Vergleich zur ersten Hypothese mehrere zusätzliche Annahmen erfordert. Zum Beispiel die Existenz von Außerirdischen, ihre Fähigkeit und ihr Wille intergalaktische Entfernungen zu bereisen, die Überlebensfähigkeit von 200m hohen Wesen bei irdischer Schwerkraft, usw.

Ähnliches gilt für die Kreationismus-Debatte. Die Evolutionstheorie ist sehr kompliziert. Tatsächlich erscheint die Minimal-Erklärung „Gott war's“ auf den ersten Blick viel einfacher. Aber damit wird einerseits die Komplexität nur verlagert, von komplizierten, aber wohldefinierten, nachvollziehbaren und falsifizierbaren Modellen auf einen uneinheitlichen, undefinierten und umstrittenen Gottesbegriff. Andererseits bietet die triviale Variante „Gott war's“ keinen Erkenntnisgewinn, zeigt keine kausalen Wirkketten auf und erlaubt keine falsifizierbaren Aussagen. Deswegen beziehen neuere kreationistische Modelle wie Intelligent Design durchaus Elemente aus der Evolutionstheorie ein. Also bietet gerade die Kreationismus-Debatte ein gutes Beispiel für von Ockhams Rasiermesser in der Variante, dass die beste Erklärung die ist, die für die Gesamtheit aller betrachteten Daten die einfachste zusammenhängende Erklärung bietet. Dabei ist zu beachten, dass dieses Sparsamkeitsprinzip keine Aussage über die Gültigkeit von Erklärungsmodellen macht, sondern nur eine Heuristik bietet, wie wirksame Erklärungen gefunden werden können.

Prinzip der Vielfalt

Walter Chatton war ein Zeitgenosse von Wilhelm von Ockham, der eine Gegenposition zu Ockhams Sparsamkeitsprinzip einnahm. Als Antwort formulierte er sein Gegenprinzip: „Wenn drei Dinge nicht genug sind, um eine klare Aussage über etwas zu treffen, muss ein viertes hinzugefügt werden, und so weiter“. Obwohl verschiedene andere Philosophen seit Ockhams Zeiten ähnliche Gegenprinzipien zum Rasiermesser vorgeschlagen haben, gewannen sie nie eine solche Bedeutung. Gottfried Wilhelm Leibniz formulierte ein Prinzip der Vielfalt (so benannt von Arthur O. Lovejoy). Die Idee dahinter ist, dass Gott die Welt mit der größtmöglichen Vielfalt von Lebewesen geschaffen habe. Immanuel Kant (1724–1804) formulierte in seinem Gegenprinzip, dass die Vielfalt der Dinge nicht voreilig vermindert werden solle. Karl Menger findet Mathematiker zu geizig im Umgang mit Variablen und formulierte sein Gesetz gegen die Armseligkeit, das eine der beiden Formen annimmt: „Entitäten dürfen nicht bis zur Unangemessenheit reduziert werden“ und „es ist sinnlos mit weniger zu tun, was mehr erfordert“.

Zitate

„Mache die Dinge so einfach wie möglich – aber nicht einfacher“
(englisch: “Everything should be made as simple as possible, but not simpler.”, Albert Einstein zugeschrieben)
„Die Technik entwickelt sich vom Primitiven über das Komplizierte zum Einfachen.“ (Antoine de Saint-Exupéry)
„Die Genialität einer Konstruktion liegt in ihrer Einfachheit. Kompliziert bauen kann jeder.“ (Sergeij P. Koroljow)

Literatur

  • Armand A. Maurer: Ockham's razor and Chatton's anti-razor. 1984
  • Armand A. Maurer: Ockham's razor and dialectical reasoning. In: Medieval studies. 58/1996. S. 49–56
  • Phil Mole: Ockham's Razor cuts both ways: The Uses and Abuses of Simplicity in Scientific Theories. In: Skeptic. 1/10. S. 40–47

Siehe auch

Weblinks