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Zwillingsparadoxon

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Das Zwillingsparadoxon ist ein Gedankenexperiment, das einen scheinbaren Widerspruch in der speziellen Relativitätstheorie beschreibt. Dabei fliegt einer von zwei Zwillingen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit zu einem fernen Stern und kehrt anschließend mit derselben Geschwindigkeit wieder zurück. Aus der Relativitätstheorie folgt nun, dass während der Flugphasen mit konstanter Geschwindigkeit als Folge der so genannten Zeitdilatation jeder Zwilling den jeweils anderen langsamer altern sieht. Nach der Rückkehr auf der Erde stellt sich aber heraus, dass der zurückgebliebene Zwilling älter geworden ist als der gereiste.

Dieses scheinbare Paradoxon beruht auf intuitiven, aber unzulässigen Annahmen über das Wesen der Zeit, insbesondere der Gleichzeitigkeit, und auf Vorgängen während der Beschleunigungsphase am Umkehrpunkt der Reise. Durch diese Umkehrphase sind die beiden Zwillinge nicht mehr gleichwertig, und nur die Betrachtung der Zeitdilatation aus der Sicht des irdischen Zwillings liefert das richtige Ergebnis, da er während der gesamten Reisedauer keiner wesentlichen Beschleunigung ausgesetzt ist. Die Erdrotation ist in diesem Fall vernachlässigbar.

1971 konnte bereits bei einem Interkontinentalflug eine Zeitdifferenz dieser Art indirekt durch den Vergleich zweier Atomuhren in bester Übereinstimmung mit der Vorhersage der Relativitätstheorie nachgewiesen werden. Bei diesem Hafele-Keating-Experiment spielen jedoch auch die Erdrotation und Effekte der allgemeinen Relativitätstheorie eine Rolle.

Zur Auflösung des Paradoxons im Detail sind folgende zwei Fragen zu beantworten:

  • Wie kommt es, dass jeder Zwilling den jeweils anderen langsamer altern sieht?
  • Wieso erweist sich der zurückgebliebenen Zwillings nach der Reise als der ältere?

Das wechselseitig langsamere Altern der Zwillinge

Zur Beantwortung der ersten Frage betrachte man, wie der zurückgebliebene Zwilling überhaupt feststellt, dass der fliegende langsamer altert. Dazu vergleicht er die Anzeige auf einer Uhr, die der fliegende Zwilling mit sich führt, mit zwei ruhenden Uhren, die sich am Anfang und am Ende einer bestimmten Teststrecke befinden, die der fliegende Zwilling passiert. Dazu müssen diese beiden Uhren aus der Sicht des ruhenden Zwillings natürlich auf die gleiche Zeit eingestellt worden sein. Der fliegende Zwilling liest zwar bei den Passagen die selben Uhrstände ab, wie der ruhende, er wird aber einwenden, dass seiner Ansicht nach die Uhr am Ende der Teststrecke vorgeht.

Ursache ist der Umstand, dass es nach der Relativitätstheorie keine absolute Gleichzeitigkeit gibt. Die Gleichzeitigkeit von Ereignissen an verschiedenen Orten und damit auch die angezeigte Zeitdifferenz von zwei dortigen Uhren wird von Beobachtern, die sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten bewegen, unterschiedlich beurteilt. Eine genaue Betrachtung der Verhältnisse zeigt, dass die wechselseitig beobachtete Verlangsamung der Zeit daher nicht zu einem Widerspruch führt. Hilfreich sind dazu die vergleichsweise anschaulichen Minkowski-Diagramme, über die sich dieser Sachverhalt grafisch und ohne Formeln nachvollziehen lässt.

Die wechselseitige Verlangsamung steht in Einklang mit dem Relativitätsprinzip, das besagt, dass alle Beobachter, die sich mit konstanter Geschwindigkeit gegeneinander bewegen, völlig gleichberechtigt sind. Man spricht von Inertialsystemen, in denen sich diese Beobachter befinden. Würde einer der Zwillinge tatsächlich langsamer altern als der andere, wäre diese Gleichwertigkeit verletzt.

Die Umkehrphase des reisenden Zwillings

Zur Beantwortung der zweiten Frage ist die Abbrems- beziehungsweise Beschleunigungsphase zu betrachten, die für die Rückkehr des fliegenden Zwillings erforderlich ist. Während dieser Phase vergeht aus der Sicht des fliegenden Zwillings die Zeit auf der Erde schneller. Der zurückgebliebene Zwilling altert dabei gerade soweit nach, dass sich nach der Rückkehr auf die Erde kein Widerspruch ergibt. Das Ergebnis nach der Rückkehr steht auch nicht im Widerspruch zum Relativitätsprinzip, da die beiden Zwillinge aufgrund der Beschleunigung, die nur der fliegende erfährt, nicht als gleichwertig betrachtet werden können.

Ursache dieser Nachalterung ist wiederum die Relativität der Gleichzeitigkeit. Während der Beschleunigung wechselt der fliegende Zwilling gewissermaßen ständig in neue Inertialsysteme und bewertet damit auch ständig den Zeitpunkt neu, der aus seiner Sicht gleichzeitig auf der Erde herrscht. Je weiter der Zwilling sich von der Erde entfernt hat, umso größer ist dieser Nachalterungseffekt.

Weg-Zeit-Diagramm für v=0,6c. Der Zwilling auf der Erde bewegt sich auf der Zeitachse von A1 nach A4. Der reisende Zwilling nimmt den Weg über B. Linien der Gleichzeitigkeit aus der Sicht des reisenden Zwillings sind für die Hinreise blau und für die Rückreise rot eingezeichnet. Die Punkte auf den Reisewegen markieren jeweils ein Jahr Eigenzeit.

Die Verhältnisse sind im dargestellten Weg-Zeit-Diagramm einer Reise von A nach B und wieder zurück mit 60% der Lichtgeschwindigkeit c dargestellt. Die Bahn des zurückbleibenden Zwillings verläuft entlang der Zeitachse von A1 nach A4, der fliegende nimmt den Weg über B. Jede horizontale Linie im Diagramm entspricht Ereignissen, die aus der Sicht des zurückgebliebenen Zwillings gleichzeitig erfolgen. Der fliegende Zwilling dagegen nimmt beim Hinflug alle Ereignisse auf den blauen Linien als gleichzeitig wahr und beim Rückflug die auf den roten. Unmittelbar vor seiner Ankunft am Ziel B befindet sich der ruhende Zwilling aus der Sicht des fliegenden daher bei A2 und erscheint daher weniger gealtert. Während der Umkehrphase, die hier als so kurz angenommen wurde, dass sie im Diagramm nicht zu erkennen ist, schwenken die Linien der Gleichzeitigkeit für den fliegenden Zwilling, und der zurückgebliebene altert bis zum Punkt A3 nach. Während der Rückreise nach A4 scheint der zurückgebliebene Zwilling wieder langsamer zu altern.

Bei all diesen Betrachtungen wurde vorausgesetzt, dass die Zwillinge bei ihrer Einschätzung des Geschehens die ihnen bekannte Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichtes berücksichtigen und nicht das unmittelbar wahrgenommene für die gleichzeitig anderswo stattfindende Realität halten.

Bezug zur allgemeinen Relativitätstheorie

Anders als vielfach behauptet lässt sich das Zwillingsparadoxon vollständig im Rahmen der speziellen Relativitätstheorie auflösen. Aus der Sicht der allgemeinen Relativitätstheorie lassen sich jedoch die Vorgänge während der Beschleunigungsphase zusätzlich tiefergehend interpretieren. So lässt sich ein Bezug zu dem Umstand herstellen, wonach Uhren im Gravitationsfeld an verschiedenen Stellen unterschiedlich schnell gehen. Der fliegende Zwilling könnte seine Umkehrphase so interpretieren, dass er sich in einem homogenen Gravitationsfeld befindet, gegen das er mit seinem Raketentriebwerk ankämpft, derart, dass er sich ständig an der selben Stelle befindet. Diese beiden Situationen sind in der allgemeinen Relativitätstheorie völlig gleichwertig. Das beobachtete raschere Altern des irdischen Zwillings erklärt der Reisende in diesem Fall damit, dass dieser sich auf einem höheren Gravitationspotential befindet. Aus dem gleichen Grund würde auch ein Bewohner eines Neutronensterns alle Vorgänge an seinem Himmel rascher ablaufen sehen. Je stärker die Beschleunigung in der Umkehrphase ist, umso größer ist diese Potenzialdifferenz, umso kleiner ist aber auch die Dauer der Umkehrphase. Der erwähnte Nachalterungseffekt ist daher auch im Rahmen dieser Interpretation von der Stärke der Beschleunigung völlig unabhängig.

Andere Reisewege

Der fliegende Zwilling erweist sich nach der Rückkehr zur Erde unabhängig von den Details seiner Flugroute immer als der weniger gealterte. Das bedeutet, dass die zeitlich längste Reise von irgendeiner Stelle in Raum und Zeit zu einer anderen stets diejenige ist, die mit konstanter Geschwindigkeit, also ohne Beschleunigung erfolgt. In der Relativitätstheorie werden Raum und Zeit zur so genannten Raumzeit vereinigt. Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem dreidimensionalen Raum und der vierdimensionalen Raumzeit besteht daher darin, dass eine Strecke im Raum die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten darstellt, während es in der Raumzeit dagegen die längste ist. Entsprechend ist auch eine Geodäte in der Raumzeit als die längste Strecke zwischen zwei Punkten definiert.

Zahlenbeispiel

Für eine Hin- und Rückreise mit 60% der Lichtgeschwindigkeit zu einem Ziel in 3 Lichtjahren Abstand ergeben sich folgende Verhältnisse (siehe obige Grafik): Aus der Sicht des zurückgebliebenen Zwillings sind für Hin- und Rückweg jeweils 5 Jahre erforderlich. Der Faktor für die Zeitdilatation und die Längenkontraktion beträgt 0,8. Das bedeutet, dass der fliegende Zwilling auf dem Hinweg nur um 5x0,8=4 Jahre altert. Dieser erklärt sich diesen geringeren Zeitbedarf damit, dass die Wegstrecke sich durch die Längenkontraktion bei seiner Reisegeschwindigkeit auf 3x0,8=2,4 Lichtjahre verkürzt hat. Da aus seiner Sicht auf der Erde die Zeit auch langsamer verstreicht, scheint auf der Erde unmittelbar vor seiner Ankunft am fernen Stern lediglich 4x0,8=3,2 Jahre verstrichen zu sein. Während der Umkehrphase verstreichen aber auf der Erde aus seiner Sicht zusätzlich 3,6 Jahre. Zusammen mit den 3,2 Jahren auf dem Rückweg sind also auch aus der Sicht des fliegenden Zwillings auf der Erde insgesamt 10 Jahre verstrichen, während er selbst lediglich 8 Jahre gealtert ist.