„Joachim Ritter“ – Versionsunterschied

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{{Dieser Artikel|befasst sich mit dem Philosophen Joachim Ritter. Zum Diplomaten siehe [[Joachim Friedrich Ritter]].}}
'''Joachim Ritter''' (* [[3. April]] [[1903]] in [[Geesthacht]]; † [[3. August]] [[1974]] in [[Münster (Westfalen)|Münster]]) war ein deutscher [[Philosoph]] und Begründer der nach ihm benannten [[Ritter-Schule]].
'''Joachim Ritter''' (* [[3. April]] [[1903]] in [[Geesthacht]]; † [[3. August]] [[1974]] in [[Münster]]) war ein deutscher [[Philosoph]] und Begründer der nach ihm benannten [[Ritter-Schule]].


== Leben ==
== Leben ==
Ritter studierte Philosophie, Theologie, Deutsch und Geschichte in [[Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg|Heidelberg]], [[Philipps-Universität Marburg|Marburg]], [[Albert-Ludwigs-Universität Freiburg|Freiburg im Breisgau]] (u. a. bei [[Erich Rothacker]], [[Heinz Heimsoeth]] und [[Martin Heidegger]]) und Hamburg, wo er 1925 bei [[Ernst Cassirer]] mit der Arbeit ''Docta ignorantia''. Als Cassirers Assistent nahm Ritter im Frühling 1929 an den [[Davoser Hochschulkurse|II. Internationalen Hoschulkursen]] in Davos teil und war einer der Protokollanten der [[Davoser Disputation]], die Cassirer mit [[Martin Heidegger]] führte.<ref>Martin Heidegger Gesamtausgabe HGA), 3, 1973, S. 315</ref>
Ritter studierte Philosophie, Theologie, Deutsch und Geschichte in [[Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg|Heidelberg]], [[Philipps-Universität Marburg|Marburg]], [[Albert-Ludwigs-Universität Freiburg|Freiburg im Breisgau]] (u. a. bei [[Erich Rothacker]], [[Heinz Heimsoeth]] und [[Martin Heidegger]]) und Hamburg, wo er 1925 bei [[Ernst Cassirer]] mit der Arbeit ''Docta ignorantia – Die Theorie des Nichtwissens bei [[Nikolaus von Kues|Nicolaus Cusanus]]'' promoviert wurde. Als Cassirers Assistent nahm Ritter im Frühling 1929 an den [[Davoser Hochschulkurse|II. Internationalen Hochschulkursen]] in Davos teil und war einer der Protokollanten der [[Davoser Disputation]], die Cassirer mit Martin Heidegger führte.<ref>Martin Heidegger Gesamtausgabe (HGA), 3, 1973, S. 315</ref>


Die Theorie des Nichtwissens bei [[Nikolaus von Kues|Nicolaus Cusanus]]'' promoviert wurde. Er habilitierte sich 1932 mit Unterstützung Ernst Cassirers (es gab Widerstände in der Fakultät wegen der kommunistischen Vergangenheit Ritters) mit einer ''Untersuchung zur Aufnahme und Umwandlung der [[Neuplatonismus|neuplatonischen]] [[Ontologie]] bei [[Augustinus von Hippo|Augustinus]]''. Danach war er als Dozent an der [[Universität Hamburg]] tätig.<ref>Odo Marquard: Ritter, Joachim. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 21, Duncker & Humblot, Berlin 2003, ISBN 3-428-11202-4, S. 663.</ref>
Er habilitierte sich 1932 mit Unterstützung Ernst Cassirers (es gab Widerstände in der Fakultät wegen der kommunistischen Vergangenheit Ritters) mit einer ''Untersuchung zur Aufnahme und Umwandlung der [[Neuplatonismus|neuplatonischen]] [[Ontologie]] bei [[Augustinus von Hippo|Augustinus]]''. Danach war er als Dozent an der [[Universität Hamburg]] tätig.<ref>Odo Marquard: Ritter, Joachim. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 21, Duncker & Humblot, Berlin 2003, ISBN 3-428-11202-4, S. 663.</ref>


Am 11. November 1933 gehörte er zu den Unterzeichnern des ''[[Bekenntnis der deutschen Professoren zu Adolf Hitler|Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat]]''.<ref name="Klee499">[[Ernst Klee]]: ''Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945''. Fischer Taschenbuch Verlag, Zweite aktualisierte Auflage, Frankfurt am Main 2005, ISBN 978-3-596-16048-8, S. 499.</ref> 1937 trat er in die [[Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei|NSDAP]], die [[Nationalsozialistischer Altherrenbund|NS-Studentenkampfhilfe]], den [[Nationalsozialistischer Lehrerbund|NS-Lehrerbund]] und die [[Nationalsozialistische Volkswohlfahrt]] ein.<ref name="Klee499" /> Ab 1940 leistete er als Reserveoffizier Dienst in der [[Wehrmacht]] und war ab 1941 an der Ostfront, wo er mehrere Auszeichnungen erhielt. Am 8. Mai 1943 wurde er zum ordentlichen Professor für Philosophie an der [[Universität Kiel]] ernannt<ref>{{Literatur|Titel=Forschungen und Fortschritte|TitelErg=Personalnachrichten. Ernennungen|Herausgeber=Nachrichtenblatt der Deutschen Wissenschaft und Technik, Organ des Reichsforschungsrates|Jahr=1943|Band=19, 23/24|Seiten=252}}</ref>, konnte die Stelle aber aufgrund seiner Militärtätigkeit nicht wahrnehmen.
Am 11. November 1933 unterzeichnete er das ''[[Bekenntnis der deutschen Professoren zu Adolf Hitler]]''.<ref name="Klee499">[[Ernst Klee]]: ''Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945''. Fischer Taschenbuch Verlag, Zweite aktualisierte Auflage, Frankfurt am Main 2005, ISBN 978-3-596-16048-8, S. 499.</ref> 1937 trat er in die [[Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei|NSDAP]], die [[Nationalsozialistischer Altherrenbund|NS-Studentenkampfhilfe]], den [[Nationalsozialistischer Lehrerbund|NS-Lehrerbund]] und die [[Nationalsozialistische Volkswohlfahrt]] ein.<ref name="Klee499" /> Ab 1940 leistete er als Reserveoffizier Dienst in der [[Wehrmacht]] und war ab 1941 an der Ostfront, wo er mehrere Auszeichnungen erhielt. Am 8. Mai 1943 wurde er zum ordentlichen Professor für Philosophie an der [[Universität Kiel]] ernannt<ref>{{Literatur|Titel=Forschungen und Fortschritte|TitelErg=Personalnachrichten. Ernennungen|Herausgeber=Nachrichtenblatt der Deutschen Wissenschaft und Technik, Organ des Reichsforschungsrates|Jahr=1943|Band=19, 23/24|Seiten=252}}</ref>, konnte die Stelle aber aufgrund seiner Militärtätigkeit nicht wahrnehmen.


[[Datei:Grab Joachim Ritter FriedhofOhlsdorf (2).jpg|mini|Kissenstein ''Joachim Ritter'' auf dem [[Friedhof Ohlsdorf]]]]
Von 1946 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1968 war er ordentlicher Professor für Philosophie an der [[Westfälische Wilhelms-Universität|Westfälischen Wilhelms-Universität]] in Münster, unterbrochen von einer Gastprofessur in [[Istanbul]] (1953–1955). Ritter war Mitglied der ''Arbeitsgemeinschaft für Forschungen des Landes Nordrhein-Westfalen'' (später [[Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste]]), der [[Akademie der Wissenschaften und der Literatur]] zu Mainz sowie des deutschen [[Wissenschaftsrat]]es. Sein Sohn war der Kultur- und Wissenschaftsjournalist und Schriftsteller [[Henning Ritter]].
[[File:Grab Joachim Ritter.jpg|thumb|Grabstein von Joachim Ritter und seiner Ehefrau Edith geborene Dettmer auf dem Neuenheimer Friedhof in Heidelberg]]

Von 1946 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1968 war er ordentlicher Professor für Philosophie an der [[Westfälische Wilhelms-Universität|Westfälischen Wilhelms-Universität]] in Münster, unterbrochen von einer Gastprofessur in [[Istanbul]] (1953–1955).

Ritter war Mitglied der ''Arbeitsgemeinschaft für Forschungen des Landes Nordrhein-Westfalen'' (später [[Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste]]), der [[Akademie der Wissenschaften und der Literatur]] zu Mainz sowie des deutschen [[Wissenschaftsrat (Deutschland)|Wissenschaftsrates]].

Sein Sohn war der Kultur- und Wissenschaftsjournalist und Schriftsteller [[Henning Ritter]].

Joachim Ritter wurde auf dem [[Friedhof Ohlsdorf|Ohlsdorfer Friedhof]] in Hamburg im Planquadrat AA 28 südwestlich von Kapelle 6 beigesetzt.<ref>[https://www.friedhof-hamburg.de/besucher/prominente/ Prominenten-Gräber]</ref> Seit dem Tod seiner Witwe Edith Ritter befindet sich das Grab auf dem Friedhof Neuenheim in Heidelberg.


== Werk ==
== Werk ==
Joachim Ritters Werk ist zunächst philosophiegeschichtlich ausgerichtet. Frühe Arbeiten widmen sich im Anschluss an Untersuchungen Cassirers v.&nbsp;a. dem Übergang vom [[Mittelalter|Spätmittelalter]] zur frühen [[Neuzeit]] sowie der [[Spätantike]]. Dabei gilt sein inhaltliches Hauptinteresse dem Verhältnis von Kontinuität und Wandel im konkreten Vollzug philosophie- und geistesgeschichtlicher Umbrüche. Daneben werden auch grundsätzliche Überlegungen zur Aufgabe und Vorgehensweise der Philosophie sowie der ''Geschichtlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis'' (1938) angestellt.
Joachim Ritters Werk ist zunächst philosophiegeschichtlich ausgerichtet. Frühe Arbeiten widmen sich im Anschluss an Untersuchungen Cassirers v.&nbsp;a. dem Übergang vom [[Mittelalter|Spätmittelalter]] zur frühen [[Neuzeit]] sowie der [[Spätantike]]. Dabei gilt sein inhaltliches Hauptinteresse dem Verhältnis von Kontinuität und Wandel im konkreten Vollzug philosophie- und geistesgeschichtlicher Umbrüche. Daneben werden auch grundsätzliche Überlegungen zur Aufgabe und Vorgehensweise der Philosophie sowie der ''Geschichtlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis'' (1938) angestellt.


Nach dem [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkrieg]] arbeitete Ritter im Zuge einer interpretatorisch bahnbrechenden Auseinandersetzung mit [[Georg Wilhelm Friedrich Hegel|Hegels]] Rechtsphilosophie (v.&nbsp;a. ''Hegel und die französische Revolution'', 1957) eine philosophische Theorie der [[Moderne]] aus, in deren Mittelpunkt der Begriff der [[Entzweiung]] steht. Ihr zufolge konstituiert sich die moderne Welt in Form der bürgerlichen [[Gesellschaft (Soziologie)|Gesellschaft]], ihres „abstrakten“ [[Recht]]es und der ihre [[industrie]]lle Arbeitsweise tragenden neuzeitlichen [[Naturwissenschaft]] und [[Technik]] wesentlich durch den Bruch mit den überlieferten Lebensordnungen und Weltbildern der geschichtlichen Herkunft. Die auf diese Weise erst ermöglichte [[Freiheit|Befreiung]] des Einzelnen aus der Übermacht der [[Natur]] und den traditionellen sozialen Bindungen wird ohne Vorbehalt bejaht, bliebe nach Ritter aber bloß negativ und abstrakt, wenn die von der Gesellschaft ausgeschlossene und damit zugleich freigegebene historische Substanz menschlichen Daseins nicht gleichwohl im Medium [[Subjektivität|subjektiver Innerlichkeit]] bewahrt und gegenwärtig gehalten würde. In diesem Sinne dient z. B. die Ausbildung der [[Geisteswissenschaften]] sowie die [[Ästhetik|Ästhetisierung]] der [[Kunst]] und des menschlichen Naturverhältnisses der [[Kompensation]] der abstrakten Geschichtslosigkeit und [[Entzauberung der Welt|entzauberten]] Lebenswirklichkeit der modernen Gesellschaft.
Nach dem [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkrieg]] arbeitete Ritter im Zuge einer interpretatorisch bahnbrechenden Auseinandersetzung mit [[Georg Wilhelm Friedrich Hegel|Hegels]] Rechtsphilosophie (v.&nbsp;a. ''Hegel und die französische Revolution'', 1957) eine philosophische Theorie der [[Moderne]] aus, in deren Mittelpunkt der Begriff der [[Entzweiung]] steht. Ihr zufolge konstituiert sich die moderne Welt in Form der bürgerlichen [[Gesellschaft (Soziologie)|Gesellschaft]], ihres „abstrakten“ [[Recht]]s und der sie tragenden [[Industrie|industrialisierten]] [[Arbeit (Philosophie)|Arbeit]], neuzeitlichen [[Naturwissenschaft]] und [[Technik]] wesentlich durch den Bruch mit den überlieferten Lebensordnungen und Weltbildern der geschichtlichen Herkunft. Sie hat den Menschen allein als natürliches Bedürfniswesen zum Inhalt und setzt ihn damit in seinen sonstigen persönlichen und familiären Bestimmungen frei. Die auf diese Weise erst ermöglichte [[Freiheit|Befreiung]] des Einzelnen aus der Übermacht der [[Natur]] und den traditionellen sozialen Bindungen wird ohne Vorbehalt bejaht, bliebe nach Ritter aber bloß negativ und abstrakt, wenn die von der Gesellschaft ausgeschlossene und damit zugleich freigegebene historische Substanz menschlichen Daseins nicht gleichwohl im Medium [[Subjektivität|subjektiver Innerlichkeit]] bewahrt und gegenwärtig gehalten würde. In diesem Sinne dient z. B. die Ausbildung der [[Geisteswissenschaften]] sowie die [[Ästhetik|Ästhetisierung]] der [[Kunst]] und des menschlichen Naturverhältnisses der Kompensation der abstrakten Geschichtslosigkeit und [[Entzauberung der Welt|entzauberten]] Lebenswirklichkeit der modernen Gesellschaft. Dies ist jedoch nicht ohne weiters möglich, da die bürgerliche Gesellschaft dazu tendiert, die Entzweiung aufzuheben, d.&nbsp;h. „ihr Arbeits- und Klassensystem zur einzigen Bestimmung des Menschen zu machen“<ref name=":0">{{Literatur |Autor=Joachim Ritter |Titel=Hegel und die französische Revolution |Hrsg= |Sammelwerk=Metaphysik und Politik |Band= |Nummer= |Auflage=2. |Verlag=Suhrkamp |Ort=Frankfurt am Main |Datum=2018 |ISBN= |Seiten=232}}</ref>. Dagegen gilt es für die praktische Philosophie, die Entzweiung in ihrer „positiven Deutung“<ref>{{Literatur |Autor=Joachim Ritter |Titel=Hegel und die französische Revolution |Sammelwerk=Metaphysik und Politik |Band= |Nummer= |Auflage=2. |Verlag=Suhrkamp |Ort=Frankfurt am Main |Datum=2018 |ISBN= |Seiten=226}}</ref> zu Bewusstsein zu bringen und die „in der Subjektivität bewahrten Substanz“ vor einer „absoluten Vergesellschaftung“<ref name=":0" /> zu bewahren.


Die Beschäftigung mit [[Aristoteles]] (v.&nbsp;a. ''Das bürgerliche Leben. Zur aristotelischen Theorie des Glücks'', 1956; ''Zur Grundlegung der praktischen Philosophie bei Aristoteles'', 1960) führt Ritter zur Entwicklung einer Konzeption [[Praktische Philosophie|praktischer Philosophie]] als „[[Hermeneutik]] der geschichtlichen Welt“. Ihr zufolge besteht die Aufgabe der praktischen Philosophie nicht vorrangig im Aufstellen abstrakter moralischer [[Soziale Norm|Normen]] oder dem Entwurf neuer politischer Ordnungen, sondern in der Auslegung der konkreten, geschichtlich gewordenen Wirklichkeit auf die ihr selbst bereits innewohnende Vernunft hin, die Ritter insbesondere in politischen und gesellschaftlichen [[Institution]]en verwirklicht sieht. Sie gewährleisten und sichern den in der modernen Entzweiung vorausgesetzten Zusammenhang von Subjektivität und bürgerlicher Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund wird die neuzeitliche Aufspaltung der traditionellen praktischen Philosophie in eine auf den Bereich subjektiver Innerlichkeit beschränkte normative [[Ethik]] auf der einen und eine die äußeren, institutionell geordneten Lebensverhältnisse des Menschen lediglich als positive Gegebenheiten untersuchende [[Rechtstheorie|Rechts-]] und [[Staatstheorie]] auf der anderen Seite kritisiert.
Die Beschäftigung mit [[Aristoteles]] (v.&nbsp;a. ''Das bürgerliche Leben. Zur aristotelischen Theorie des Glücks'', 1956; ''Zur Grundlegung der praktischen Philosophie bei Aristoteles'', 1960) führt Ritter zur Entwicklung einer Konzeption [[Philosophie#Praktische Philosophie|Praktischer Philosophie]] als „[[Hermeneutik]] der geschichtlichen Welt“. Ihr zufolge besteht die Aufgabe der praktischen Philosophie nicht vorrangig im Aufstellen abstrakter moralischer [[Soziale Norm|Normen]] oder dem Entwurf neuer politischer Ordnungen, sondern in der Auslegung der konkreten, geschichtlich gewordenen Wirklichkeit auf die ihr selbst bereits innewohnende Vernunft hin, die Ritter insbesondere in politischen und gesellschaftlichen [[Institution]]en verwirklicht sieht. Sie gewährleisten und sichern den in der modernen Entzweiung vorausgesetzten Zusammenhang von Subjektivität und bürgerlicher Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund wird die neuzeitliche Aufspaltung der traditionellen praktischen Philosophie in eine auf den Bereich subjektiver Innerlichkeit beschränkte normative [[Ethik]] auf der einen und eine die äußeren, institutionell geordneten Lebensverhältnisse des Menschen lediglich als positive Gegebenheiten untersuchende [[Rechtstheorie|Rechts-]] und [[Staatstheorie]] auf der anderen Seite kritisiert. Praktische Philosophie nach Ritter soll dagegen beides in sich vereinen, die Bewahrung der freigesetzten Subjektivität einerseits und die den [[Georg Wilhelm Friedrich Hegel#Objektiver Geist|sittlichen]] Zusammenhang sichernden staatlich-gesellschaftlichen Institutionen andererseits.


Ein weiteres wichtiges Projekt Ritters ist die philosophische [[Begriffsgeschichte]]. Das ''[[Historisches Wörterbuch der Philosophie|Historische Wörterbuch der Philosophie]]'', von Ritter bereits seit den frühen 1960er Jahren vorbereitet und mit einem umfangreichen Mitarbeiterkreis seit 1971 herausgegeben, bildet mittlerweile eine der wichtigsten Arbeitsgrundlagen philosophischer und geisteswissenschaftlicher Ausbildung und Forschung. Seinem methodologischen Ansatz liegt eine Konzeption von Philosophie zu Grunde, für die diese „im Wandel ihrer geschichtlichen Positionen und in der Entgegensetzung der Richtungen und Schulen sich als [[Philosophia perennis|perennierende Philosophie]] fortschreitend entfaltet“. Die Trennung von systematischer Philosophie und [[Philosophiegeschichte]] wird zurückgewiesen und der Bezug auf die eigene Geschichte als konstitutiv für das philosophische Denken selbst begriffen.
Ein weiteres wichtiges Projekt Ritters ist die philosophische [[Begriffsgeschichte]]. Das ''[[Historisches Wörterbuch der Philosophie|Historische Wörterbuch der Philosophie]]'', von Ritter bereits seit den frühen 1960er Jahren vorbereitet und mit einem umfangreichen Mitarbeiterkreis seit 1971 herausgegeben, bildet mittlerweile eine der wichtigsten Arbeitsgrundlagen philosophischer und geisteswissenschaftlicher Ausbildung und Forschung. Seinem methodologischen Ansatz liegt eine [[Definitionen der Philosophie|Konzeption von Philosophie]] zu Grunde, für die diese „im Wandel ihrer geschichtlichen Positionen und in der Entgegensetzung der Richtungen und Schulen sich als [[Philosophia perennis|perennierende Philosophie]] fortschreitend entfaltet“. Die Trennung von systematischer Philosophie und [[Philosophiegeschichte]] wird zurückgewiesen und der Bezug auf die eigene Geschichte als konstitutiv für das philosophische Denken selbst begriffen.


== Wirkung ==
== Wirkung ==
Joachim Ritter gehört zu den einflussreichsten deutschen Philosophen der [[Nachkriegszeit in Deutschland|Nachkriegszeit]]. Neben seinem regen bildungs- und hochschulpolitischen Engagement, das von einem emphatischen Begriff [[Theorie|theoretischer]] [[Bildung]] getragen war, wirkten insbesondere die Theorie der Geisteswissenschaften und die Überlegungen zur praktischen Philosophie weiter, die erheblich zur so genannten „Rehabilitierung der praktischen Philosophie“ in Deutschland beitrugen. Zu Ritters Schülern zählen u.&nbsp;a. [[Günther Bien]], [[Ernst-Wolfgang Böckenförde]], [[Wilhelm Goerdt]], [[Karlfried Gründer]], [[Martin Kriele]], [[Hermann Lübbe]], [[Odo Marquard]], [[Reinhart Maurer]], [[Willi Oelmüller]], [[Günter Rohrmoser]], [[Hans Jörg Sandkühler]], [[Wilhelm Schmidt-Biggemann]] und [[Robert Spaemann]]. Vor allem Kritiker wie [[Jürgen Habermas]] sprachen in diesem Zusammenhang von einer „[[Ritter-Schule]]“ mit konservativer Ausrichtung.<ref> Jürgen Habermas, ''[[Der philosophische Diskurs der Moderne]]'', Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985, S. 90–93 ISBN 3-518-57722-0</ref> In der neueren ideengeschichtlichen Forschung wird dagegen der Beitrag Ritters und seiner Schüler zur "liberal-konservative[n] Begründung der Bundesrepublik"<ref>[[Jens Hacke]], ''Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberal-konservative Begründung der Bundesrepublik''. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2006 ISBN 978-3-525-36842-8.</ref> hervorgehoben und untersucht.
Joachim Ritter gehört zu den einflussreichsten deutschen Philosophen der [[Nachkriegszeit in Deutschland|Nachkriegszeit]]. Neben seinem regen bildungs- und hochschulpolitischen Engagement, das von einem emphatischen Begriff [[Theorie|theoretischer]] [[Bildung]] getragen war, wirkten insbesondere die Theorie der Geisteswissenschaften und die Überlegungen zur praktischen Philosophie weiter, die erheblich zur so genannten „Rehabilitierung der praktischen Philosophie“ in Deutschland beitrugen. Zu Ritters Schülern zählen u.&nbsp;a. [[Günther Bien]], [[Ernst-Wolfgang Böckenförde]], [[Wilhelm Goerdt]], [[Karlfried Gründer]], [[Martin Kriele]], [[Hermann Lübbe]], [[Odo Marquard]], [[Reinhart Maurer]], [[Willi Oelmüller]], [[Günter Rohrmoser]], [[Hans Jörg Sandkühler]], [[Wilhelm Schmidt-Biggemann]] und [[Robert Spaemann]]. Vor allem Kritiker wie [[Jürgen Habermas]] sprachen in diesem Zusammenhang von einer „[[Ritter-Schule]]“ mit konservativer Ausrichtung.<ref> Jürgen Habermas, ''[[Der philosophische Diskurs der Moderne]]'', Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985, S. 90–93 ISBN 3-518-57722-0</ref> In der neueren ideengeschichtlichen Forschung wird dagegen der Beitrag Ritters und seiner Schüler zur „liberal-konservative[n] Begründung der Bundesrepublik“<ref>[[Jens Hacke]], ''Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberal-konservative Begründung der Bundesrepublik''. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2006, ISBN 978-3-525-36842-8.</ref> hervorgehoben und untersucht. Die konservative Stoßrichtung der „Ritter-Schule“ trägt von ihrem Gründer her außerdem an Marx geschulte Züge<ref>{{Literatur |Autor=Christoph Henning |Titel=Aristotelismus von links. Joachim Ritters Marxlektüren und ihre Bedeutung für sein weiteres Werk |Hrsg=Mark Schweda, Ulrich von Bülow |Sammelwerk=Entzweite Moderne. Zur Aktualität Joachim Ritters und seiner Schüler |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag=Wallstein |Ort=Marbach |Datum= |ISBN= |Seiten=}}</ref>, was sich an der Kritik der gesellschaftlichen „Entfremdung“<ref>{{Literatur |Autor=Joachim Ritter |Titel=Hegel und die französische Revolution |Hrsg= |Sammelwerk=Metaphysik und Politik |Band= |Nummer= |Auflage=2. |Verlag=Suhrkamp |Ort=Frankfurt am Main |Datum=2018 |ISBN= |Seiten=252}}</ref> zeigt.


== Schriften (Auswahl) ==
== Schriften (Auswahl) ==
* ''Docta Ignorantia. Die Theorie des Nichtwissens bei [[Nikolaus von Kues|Nicolaus Cusanus]]'', Leipzig: Teubner 1927.
* ''Docta Ignorantia. Die Theorie des Nichtwissens bei [[Nikolaus von Kues|Nicolaus Cusanus]]'', Leipzig: Teubner 1927.
* ''Mundus Intelligibilis. Eine Untersuchung zur Aufnahme und Umwandlung der neuplatonischen Ontologie bei Augustinus'', Frankfurt a. M.: Klostermann 1937/<sup>2</sup>2002.
* ''Mundus Intelligibilis. Eine Untersuchung zur Aufnahme und Umwandlung der neuplatonischen Ontologie bei Augustinus'', Frankfurt a. M.: Klostermann 1937/<sup>2</sup>2002.
* ''Hegel und die Französische Revolution'', Köln u. a.: Westdeutscher Verlag 1957.
* ''Hegel und die Französische Revolution'', Köln u. a.: Westdeutscher Verlag 1957 ([https://thecharnelhouse.org/wp-content/uploads/2016/03/joachim-ritter-hegel-und-die-franzocc88sische-revolution-1957.pdf Digitalisat]).
* ''Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel'', Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969/erweiterte Neuausgabe 2003.
* ''Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel'', Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969/erweiterte Neuausgabe 2003.
* als Hrsg.: ''Historisches Wörterbuch der Philosophie, unter Mitwirkung von mehr als 800 Fachgelehrten.'' 13 Bände, Darmstadt 1971–2007.
* ''Subjektivität. Sechs Aufsätze'', Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974.
* ''Subjektivität. Sechs Aufsätze'', Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974.
* ''Vorlesungen zur Philosophischen Ästhetik'', hrsg. von Ulrich von Bülow und Mark Schweda, Göttingen: Wallstein 2010. ISBN 978-3-8353-0744-5
* ''Vorlesungen zur Philosophischen Ästhetik'', hrsg. von Ulrich von Bülow und Mark Schweda, Göttingen: Wallstein 2010. ISBN 978-3-8353-0744-5


== Literatur ==
== Literatur ==
* Hanno Birken-Bertsch: ''Zur Kritik anthropologischer Wenden im Ausgang von Joachim Ritter.'' In: ''[[Studia Philosophica]].'' Bd. 72 (2013), S. 315–326 = ''Die anthropologische Wende. Le tournant anthropologique.'' Redigiert von [[Anton Hügli]], Schwabe, Basel 2014, S. 315–326.
* Hanno Birken-Bertsch: ''Zur Kritik anthropologischer Wenden im Ausgang von Joachim Ritter.'' In: ''[[Studia philosophica (Schweiz)|Studia Philosophica]].'' Bd. 72 (2013), S. 315–326 = ''Die anthropologische Wende. Le tournant anthropologique.'' Redigiert von [[Anton Hügli]], Schwabe, Basel 2014, S. 315–326.
* Carsten Dutt: ''Zweierlei Kompensation. Joachim Ritters Philosophie der Geisteswissenschaften gegen ihre Popularisatoren und Kritiker verteidigt.'' In: ''Scientia Poetica.'' Bd. 12 (2008), S. 294–314.
* Carsten Dutt: ''Zweierlei Kompensation. Joachim Ritters Philosophie der Geisteswissenschaften gegen ihre Popularisatoren und Kritiker verteidigt.'' In: ''Scientia Poetica.'' Bd. 12 (2008), S. 294–314.
* Bernd Haunfelder: ''Die Rektoren, Kuratoren und Kanzler der Universität Münster 1826–2016. Ein biographisches Handbuch''. Aschendorff, Münster 2020 (Veröffentlichungen des Universitätsarchivs Münster; 14), ISBN 978-3-402-15897-5, S. 255–257.
* {{NDB|21|663|664|Ritter, Joachim|[[Odo Marquard]]|118601318}}
* {{NDB|21|663|664|Ritter, Joachim|[[Odo Marquard]]|118601318}}
* [[Henning Ottmann]]: ''Joachim Ritter.'' In: [[Julian Nida-Rümelin]] (Hrsg.): ''Philosophie der Gegenwart. In Einzeldarstellungen. Von Adorno bis von Wright.'' Kröner, Stuttgart 1991, ISBN 3-520-42301-4, S. 504–509.
* [[Henning Ottmann]]: ''Joachim Ritter.'' In: [[Julian Nida-Rümelin]] (Hrsg.): ''Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen. Von Adorno bis v. Wright'' (= ''[[Kröners Taschenausgabe]].'' Band 423). Kröner, Stuttgart 1991, ISBN 3-520-42301-4, S. 504–509.
* [[Günter Rohrmoser]]: ''Konservativismus in Deutschland vor und nach dem 2. Weltkrieg. Joachim Ritter als Modernisierer.'' In: Günter Rohrmoser: ''Konservatives Denken im Kontext der Moderne.'' Gesellschaft für Kulturwissenschaft, Bietigheim/Baden 2006, ISBN 3-930218-36-4.
* [[Günter Rohrmoser]]: ''Konservativismus in Deutschland vor und nach dem 2. Weltkrieg. Joachim Ritter als Modernisierer.'' In: Günter Rohrmoser: ''Konservatives Denken im Kontext der Moderne.'' Gesellschaft für Kulturwissenschaft, Bietigheim/Baden 2006, ISBN 3-930218-36-4.
* Hans Jörg Sandkühler: Joachim Ritter. Über die Schwierigkeiten 1933–1945 Philosoph zu sein, in: ders. (Hg.), Philosophie im Nationalsozialismus, Meiner, Hamburg 2009, S. 219–252.
* Gunter Scholtz: ''Joachim Ritter als Linkshegelianer.'' In: Ulrich Dierse (Hrsg.): ''Joachim Ritter zum Gedenken.'' Steiner, Stuttgart 2004, S. 147–161.
* Gunter Scholtz: ''Joachim Ritter als Linkshegelianer.'' In: Ulrich Dierse (Hrsg.): ''Joachim Ritter zum Gedenken.'' Steiner, Stuttgart 2004, S. 147–161.
* Mark Schweda: ''Entzweiung und Kompensation. Joachim Ritters philosophische Theorie der modernen Welt.'' Alber, Freiburg im Breisgau 2013, ISBN 978-3-495-48614-6.
* [[Mark Schweda]]: ''Entzweiung und Kompensation. Joachim Ritters philosophische Theorie der modernen Welt.'' Alber, Freiburg im Breisgau 2013, ISBN 978-3-495-48614-6.
* Mark Schweda: ''Joachim Ritter und die Ritter-Schule. Zur Einführung.'' Junius Verlag, Hamburg 2015, ISBN 978-3-88506-708-5.
* Mark Schweda: ''Joachim Ritter und die Ritter-Schule. Zur Einführung.'' Junius Verlag, Hamburg 2015, ISBN 978-3-88506-708-5.
* Jens Thiel: ''Akademische „Zinnsoldaten“? Karrieren deutscher Geisteswissenschaftler zwischen Beruf und Berufung (1933/1945).'' In: [[Rüdiger vom Bruch]], [[Uta Gerhardt]], Aleksandra Pawliczek (Hrsg.): ''Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts.'' Steiner, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-515-08965-4, S. 167–194.
* Jens Thiel: ''Akademische „Zinnsoldaten“? Karrieren deutscher Geisteswissenschaftler zwischen Beruf und Berufung (1933/1945).'' In: [[Rüdiger vom Bruch]], [[Uta Gerhardt]], Aleksandra Pawliczek (Hrsg.): ''Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts.'' Steiner, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-515-08965-4, S. 167–194.
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== Weblinks ==
== Weblinks ==
* {{DNB-Portal|118601318}}
* {{DNB-Portal|118601318}}
* Hans Jörg Sandkühler: ''{{Webarchiv | url=http://www.philosophie.uni-bremen.de/fileadmin/mediapool/philosophie/CV/Ritter-Cassirer_2006.pdf | wayback=20110919214416 | text=„Eine lange Odyssee“. Joachim Ritter, Ernst Cassirer und die Philosophie im ‚Dritten Reich‘}}'' ([[PDF]], 268 KB). In ähnlicher Form veröffentlicht in: ''Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie'' 2006, Nr. 1, S. 139–179.
* Jens Hacke: [https://weiter-denken-journal.de/fruehjahr_2022_konservatismus/Ritter-Schule_Liberalkonservatimus.php ''Die bundesrepublikanische Variante eines Liberalkonservatismus: Bürgerlichkeit und Common Sense in der Ritter-Schule'']. ''weiter denken'' 2022, Nr. 1.
* Hans Jörg Sandkühler: ''{{Webarchiv | url=http://www.philosophie.uni-bremen.de/fileadmin/mediapool/philosophie/CV/Ritter-Cassirer_2006.pdf | wayback=20110919214416 | text=„Eine lange Odyssee“. Joachim Ritter, Ernst Cassirer und die Philosophie im ‚Dritten Reich‘}}'' ([[PDF]], 268 kB). In ähnlicher Form veröffentlicht in: ''Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie'' 2006, Nr. 1, S. 139–179.


== Einzelnachweise ==
== Einzelnachweise ==
<references />
<references />
{{Personenleiste|AMT=Rektor der WWU Münster|ZEIT=1962–1963|VORGÄNGER=[[Hermann Goecke]]|NACHFOLGER=[[Heinz Bittel]]}}


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[[Kategorie:Hegelianer]]
[[Kategorie:Hegelianer]]
[[Kategorie:Rektor (Westfälische Wilhelms-Universität)]]
[[Kategorie:Rektor (Universität Münster)]]
[[Kategorie:Hochschullehrer (Westfälische Wilhelms-Universität)]]
[[Kategorie:Philosoph (20. Jahrhundert)]]
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Aktuelle Version vom 2. Mai 2024, 08:55 Uhr

Joachim Ritter (* 3. April 1903 in Geesthacht; † 3. August 1974 in Münster) war ein deutscher Philosoph und Begründer der nach ihm benannten Ritter-Schule.

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ritter studierte Philosophie, Theologie, Deutsch und Geschichte in Heidelberg, Marburg, Freiburg im Breisgau (u. a. bei Erich Rothacker, Heinz Heimsoeth und Martin Heidegger) und Hamburg, wo er 1925 bei Ernst Cassirer mit der Arbeit Docta ignorantia – Die Theorie des Nichtwissens bei Nicolaus Cusanus promoviert wurde. Als Cassirers Assistent nahm Ritter im Frühling 1929 an den II. Internationalen Hochschulkursen in Davos teil und war einer der Protokollanten der Davoser Disputation, die Cassirer mit Martin Heidegger führte.[1]

Er habilitierte sich 1932 mit Unterstützung Ernst Cassirers (es gab Widerstände in der Fakultät wegen der kommunistischen Vergangenheit Ritters) mit einer Untersuchung zur Aufnahme und Umwandlung der neuplatonischen Ontologie bei Augustinus. Danach war er als Dozent an der Universität Hamburg tätig.[2]

Am 11. November 1933 unterzeichnete er das Bekenntnis der deutschen Professoren zu Adolf Hitler.[3] 1937 trat er in die NSDAP, die NS-Studentenkampfhilfe, den NS-Lehrerbund und die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt ein.[3] Ab 1940 leistete er als Reserveoffizier Dienst in der Wehrmacht und war ab 1941 an der Ostfront, wo er mehrere Auszeichnungen erhielt. Am 8. Mai 1943 wurde er zum ordentlichen Professor für Philosophie an der Universität Kiel ernannt[4], konnte die Stelle aber aufgrund seiner Militärtätigkeit nicht wahrnehmen.

Kissenstein Joachim Ritter auf dem Friedhof Ohlsdorf
Grabstein von Joachim Ritter und seiner Ehefrau Edith geborene Dettmer auf dem Neuenheimer Friedhof in Heidelberg

Von 1946 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1968 war er ordentlicher Professor für Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, unterbrochen von einer Gastprofessur in Istanbul (1953–1955).

Ritter war Mitglied der Arbeitsgemeinschaft für Forschungen des Landes Nordrhein-Westfalen (später Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste), der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz sowie des deutschen Wissenschaftsrates.

Sein Sohn war der Kultur- und Wissenschaftsjournalist und Schriftsteller Henning Ritter.

Joachim Ritter wurde auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg im Planquadrat AA 28 südwestlich von Kapelle 6 beigesetzt.[5] Seit dem Tod seiner Witwe Edith Ritter befindet sich das Grab auf dem Friedhof Neuenheim in Heidelberg.

Werk[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Joachim Ritters Werk ist zunächst philosophiegeschichtlich ausgerichtet. Frühe Arbeiten widmen sich im Anschluss an Untersuchungen Cassirers v. a. dem Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit sowie der Spätantike. Dabei gilt sein inhaltliches Hauptinteresse dem Verhältnis von Kontinuität und Wandel im konkreten Vollzug philosophie- und geistesgeschichtlicher Umbrüche. Daneben werden auch grundsätzliche Überlegungen zur Aufgabe und Vorgehensweise der Philosophie sowie der Geschichtlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis (1938) angestellt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete Ritter im Zuge einer interpretatorisch bahnbrechenden Auseinandersetzung mit Hegels Rechtsphilosophie (v. a. Hegel und die französische Revolution, 1957) eine philosophische Theorie der Moderne aus, in deren Mittelpunkt der Begriff der Entzweiung steht. Ihr zufolge konstituiert sich die moderne Welt in Form der bürgerlichen Gesellschaft, ihres „abstrakten“ Rechts und der sie tragenden industrialisierten Arbeit, neuzeitlichen Naturwissenschaft und Technik wesentlich durch den Bruch mit den überlieferten Lebensordnungen und Weltbildern der geschichtlichen Herkunft. Sie hat den Menschen allein als natürliches Bedürfniswesen zum Inhalt und setzt ihn damit in seinen sonstigen persönlichen und familiären Bestimmungen frei. Die auf diese Weise erst ermöglichte Befreiung des Einzelnen aus der Übermacht der Natur und den traditionellen sozialen Bindungen wird ohne Vorbehalt bejaht, bliebe nach Ritter aber bloß negativ und abstrakt, wenn die von der Gesellschaft ausgeschlossene und damit zugleich freigegebene historische Substanz menschlichen Daseins nicht gleichwohl im Medium subjektiver Innerlichkeit bewahrt und gegenwärtig gehalten würde. In diesem Sinne dient z. B. die Ausbildung der Geisteswissenschaften sowie die Ästhetisierung der Kunst und des menschlichen Naturverhältnisses der Kompensation der abstrakten Geschichtslosigkeit und entzauberten Lebenswirklichkeit der modernen Gesellschaft. Dies ist jedoch nicht ohne weiters möglich, da die bürgerliche Gesellschaft dazu tendiert, die Entzweiung aufzuheben, d. h. „ihr Arbeits- und Klassensystem zur einzigen Bestimmung des Menschen zu machen“[6]. Dagegen gilt es für die praktische Philosophie, die Entzweiung in ihrer „positiven Deutung“[7] zu Bewusstsein zu bringen und die „in der Subjektivität bewahrten Substanz“ vor einer „absoluten Vergesellschaftung“[6] zu bewahren.

Die Beschäftigung mit Aristoteles (v. a. Das bürgerliche Leben. Zur aristotelischen Theorie des Glücks, 1956; Zur Grundlegung der praktischen Philosophie bei Aristoteles, 1960) führt Ritter zur Entwicklung einer Konzeption Praktischer Philosophie als „Hermeneutik der geschichtlichen Welt“. Ihr zufolge besteht die Aufgabe der praktischen Philosophie nicht vorrangig im Aufstellen abstrakter moralischer Normen oder dem Entwurf neuer politischer Ordnungen, sondern in der Auslegung der konkreten, geschichtlich gewordenen Wirklichkeit auf die ihr selbst bereits innewohnende Vernunft hin, die Ritter insbesondere in politischen und gesellschaftlichen Institutionen verwirklicht sieht. Sie gewährleisten und sichern den in der modernen Entzweiung vorausgesetzten Zusammenhang von Subjektivität und bürgerlicher Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund wird die neuzeitliche Aufspaltung der traditionellen praktischen Philosophie in eine auf den Bereich subjektiver Innerlichkeit beschränkte normative Ethik auf der einen und eine die äußeren, institutionell geordneten Lebensverhältnisse des Menschen lediglich als positive Gegebenheiten untersuchende Rechts- und Staatstheorie auf der anderen Seite kritisiert. Praktische Philosophie nach Ritter soll dagegen beides in sich vereinen, die Bewahrung der freigesetzten Subjektivität einerseits und die den sittlichen Zusammenhang sichernden staatlich-gesellschaftlichen Institutionen andererseits.

Ein weiteres wichtiges Projekt Ritters ist die philosophische Begriffsgeschichte. Das Historische Wörterbuch der Philosophie, von Ritter bereits seit den frühen 1960er Jahren vorbereitet und mit einem umfangreichen Mitarbeiterkreis seit 1971 herausgegeben, bildet mittlerweile eine der wichtigsten Arbeitsgrundlagen philosophischer und geisteswissenschaftlicher Ausbildung und Forschung. Seinem methodologischen Ansatz liegt eine Konzeption von Philosophie zu Grunde, für die diese „im Wandel ihrer geschichtlichen Positionen und in der Entgegensetzung der Richtungen und Schulen sich als perennierende Philosophie fortschreitend entfaltet“. Die Trennung von systematischer Philosophie und Philosophiegeschichte wird zurückgewiesen und der Bezug auf die eigene Geschichte als konstitutiv für das philosophische Denken selbst begriffen.

Wirkung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Joachim Ritter gehört zu den einflussreichsten deutschen Philosophen der Nachkriegszeit. Neben seinem regen bildungs- und hochschulpolitischen Engagement, das von einem emphatischen Begriff theoretischer Bildung getragen war, wirkten insbesondere die Theorie der Geisteswissenschaften und die Überlegungen zur praktischen Philosophie weiter, die erheblich zur so genannten „Rehabilitierung der praktischen Philosophie“ in Deutschland beitrugen. Zu Ritters Schülern zählen u. a. Günther Bien, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Wilhelm Goerdt, Karlfried Gründer, Martin Kriele, Hermann Lübbe, Odo Marquard, Reinhart Maurer, Willi Oelmüller, Günter Rohrmoser, Hans Jörg Sandkühler, Wilhelm Schmidt-Biggemann und Robert Spaemann. Vor allem Kritiker wie Jürgen Habermas sprachen in diesem Zusammenhang von einer „Ritter-Schule“ mit konservativer Ausrichtung.[8] In der neueren ideengeschichtlichen Forschung wird dagegen der Beitrag Ritters und seiner Schüler zur „liberal-konservative[n] Begründung der Bundesrepublik“[9] hervorgehoben und untersucht. Die konservative Stoßrichtung der „Ritter-Schule“ trägt von ihrem Gründer her außerdem an Marx geschulte Züge[10], was sich an der Kritik der gesellschaftlichen „Entfremdung“[11] zeigt.

Schriften (Auswahl)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Docta Ignorantia. Die Theorie des Nichtwissens bei Nicolaus Cusanus, Leipzig: Teubner 1927.
  • Mundus Intelligibilis. Eine Untersuchung zur Aufnahme und Umwandlung der neuplatonischen Ontologie bei Augustinus, Frankfurt a. M.: Klostermann 1937/22002.
  • Hegel und die Französische Revolution, Köln u. a.: Westdeutscher Verlag 1957 (Digitalisat).
  • Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969/erweiterte Neuausgabe 2003.
  • als Hrsg.: Historisches Wörterbuch der Philosophie, unter Mitwirkung von mehr als 800 Fachgelehrten. 13 Bände, Darmstadt 1971–2007.
  • Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974.
  • Vorlesungen zur Philosophischen Ästhetik, hrsg. von Ulrich von Bülow und Mark Schweda, Göttingen: Wallstein 2010. ISBN 978-3-8353-0744-5

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Hanno Birken-Bertsch: Zur Kritik anthropologischer Wenden im Ausgang von Joachim Ritter. In: Studia Philosophica. Bd. 72 (2013), S. 315–326 = Die anthropologische Wende. Le tournant anthropologique. Redigiert von Anton Hügli, Schwabe, Basel 2014, S. 315–326.
  • Carsten Dutt: Zweierlei Kompensation. Joachim Ritters Philosophie der Geisteswissenschaften gegen ihre Popularisatoren und Kritiker verteidigt. In: Scientia Poetica. Bd. 12 (2008), S. 294–314.
  • Bernd Haunfelder: Die Rektoren, Kuratoren und Kanzler der Universität Münster 1826–2016. Ein biographisches Handbuch. Aschendorff, Münster 2020 (Veröffentlichungen des Universitätsarchivs Münster; 14), ISBN 978-3-402-15897-5, S. 255–257.
  • Odo MarquardRitter, Joachim. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 21, Duncker & Humblot, Berlin 2003, ISBN 3-428-11202-4, S. 663 f. (Digitalisat).
  • Henning Ottmann: Joachim Ritter. In: Julian Nida-Rümelin (Hrsg.): Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen. Von Adorno bis v. Wright (= Kröners Taschenausgabe. Band 423). Kröner, Stuttgart 1991, ISBN 3-520-42301-4, S. 504–509.
  • Günter Rohrmoser: Konservativismus in Deutschland vor und nach dem 2. Weltkrieg. Joachim Ritter als Modernisierer. In: Günter Rohrmoser: Konservatives Denken im Kontext der Moderne. Gesellschaft für Kulturwissenschaft, Bietigheim/Baden 2006, ISBN 3-930218-36-4.
  • Hans Jörg Sandkühler: Joachim Ritter. Über die Schwierigkeiten 1933–1945 Philosoph zu sein, in: ders. (Hg.), Philosophie im Nationalsozialismus, Meiner, Hamburg 2009, S. 219–252.
  • Gunter Scholtz: Joachim Ritter als Linkshegelianer. In: Ulrich Dierse (Hrsg.): Joachim Ritter zum Gedenken. Steiner, Stuttgart 2004, S. 147–161.
  • Mark Schweda: Entzweiung und Kompensation. Joachim Ritters philosophische Theorie der modernen Welt. Alber, Freiburg im Breisgau 2013, ISBN 978-3-495-48614-6.
  • Mark Schweda: Joachim Ritter und die Ritter-Schule. Zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2015, ISBN 978-3-88506-708-5.
  • Jens Thiel: Akademische „Zinnsoldaten“? Karrieren deutscher Geisteswissenschaftler zwischen Beruf und Berufung (1933/1945). In: Rüdiger vom Bruch, Uta Gerhardt, Aleksandra Pawliczek (Hrsg.): Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Steiner, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-515-08965-4, S. 167–194.
  • Norbert Waszek: 1789, 1830 und kein Ende. Hegel und die Französische Revolution. In: Ulrich Herrmann, Jürgen Oelkers (Hrsg.): Französische Revolution und Pädagogik der Moderne. Beltz, Weinheim/Basel 1989, ISBN 3-407-41124-3, S. 347–359, hier S. 348 ff.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Martin Heidegger Gesamtausgabe (HGA), 3, 1973, S. 315
  2. Odo Marquard: Ritter, Joachim. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 21, Duncker & Humblot, Berlin 2003, ISBN 3-428-11202-4, S. 663.
  3. a b Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Fischer Taschenbuch Verlag, Zweite aktualisierte Auflage, Frankfurt am Main 2005, ISBN 978-3-596-16048-8, S. 499.
  4. Nachrichtenblatt der Deutschen Wissenschaft und Technik, Organ des Reichsforschungsrates (Hrsg.): Forschungen und Fortschritte. Personalnachrichten. Ernennungen. Band 19, 23/24, 1943, S. 252.
  5. Prominenten-Gräber
  6. a b Joachim Ritter: Hegel und die französische Revolution. In: Metaphysik und Politik. 2. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2018, S. 232.
  7. Joachim Ritter: Hegel und die französische Revolution. In: Metaphysik und Politik. 2. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2018, S. 226.
  8. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985, S. 90–93 ISBN 3-518-57722-0
  9. Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberal-konservative Begründung der Bundesrepublik. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2006, ISBN 978-3-525-36842-8.
  10. Christoph Henning: Aristotelismus von links. Joachim Ritters Marxlektüren und ihre Bedeutung für sein weiteres Werk. In: Mark Schweda, Ulrich von Bülow (Hrsg.): Entzweite Moderne. Zur Aktualität Joachim Ritters und seiner Schüler. Wallstein, Marbach.
  11. Joachim Ritter: Hegel und die französische Revolution. In: Metaphysik und Politik. 2. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2018, S. 252.
VorgängerAmtNachfolger
Hermann GoeckeRektor der WWU Münster
1962–1963
Heinz Bittel