„Nouvelle Philosophie“ – Versionsunterschied

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Mit '''Nouvelle Philosophie''' (oft wird auch von den ''neuen Philosophen'' gesprochen) bezeichnet man eine Gruppe französischer Intellektueller um [[André Glucksmann]], [[Alain Finkielkraut]], [[Bernard-Henri Lévy]], [[Pascal Bruckner]], [[Jean-Marie Benoist]], [[Jean-Paul Dollé]], [[Michel Guérin]], [[Christian Jambet]] und [[Gilles Susong]]. Die Strömung wird nach dem Titel eines Heftes der Zeitschrift ''[[Les Nouvelles littéraires]]'' bezeichnet, das im Juni 1976 erschien und dessen Redaktion von Jean-Marie Borzeix dem jungen Bernard-Henri Lévy übertragen wurde.<ref>[http://www.histophilo.com/nouvelle_philosophie.php Stichwort ''Nouvelle Philosophie''] auf www.histophilo.com.</ref>
Mit '''Nouvelle Philosophie''' (oft wird auch von den ''neuen Philosophen'' gesprochen) bezeichnet man eine Gruppe französischer Intellektueller um [[André Glucksmann]], [[Alain Finkielkraut]], [[Bernard-Henri Lévy]], [[Pascal Bruckner]], [[Jean-Marie Benoist]], [[Jean-Paul Dollé]], [[Michel Guérin]], [[Christian Jambet]] und [[Gilles Susong]]. Die Strömung wird nach dem Titel eines Heftes der Zeitschrift ''[[Les Nouvelles littéraires]]'' bezeichnet, das im Juni 1976 erschien und dessen Redaktion von [[Jean-Marie Borzeix]] dem jungen Bernard-Henri Lévy übertragen worden war.<ref>[http://www.histophilo.com/nouvelle_philosophie.php Stichwort ''Nouvelle Philosophie''] auf www.histophilo.com.</ref>


Die Vertreter der Strömung, die sich teils aus der existenzialistischen und der [[Michel Foucault|Foucault]]-Schule, teils auch aus dem maoistischen Lager rekrutierten, hatten sich unter dem Einfluss von [[Alexander Solschenizyn]] zum [[Totalitarismus|Antitotalitarismus]] bekannt. Sie traten in den 1970er Jahren mit einer Kritik an „linkslastigen“ Philosophen an, darunter [[Jean-Paul Sartre]] und verschiedene [[Poststrukturalismus|Poststrukturalisten]]. Diese „linken“ Philosophen stellten – so die Kritik der ''neuen Philosophen'' – gemeinschaftliche und [[Ideologie|ideologische]] [[Ideal (Philosophie)|Ideale]] über [[Humanismus|humanistische]] Gesichtspunkte, insbesondere über den Gesichtspunkt des einzelnen Individuums. Sie seien derselben antihumanistischen Tradition zuzuordnen wie [[Friedrich Nietzsche]] und [[Martin Heidegger]].
Die Vertreter der Strömung, die sich teils aus der existenzialistischen und der [[Michel Foucault|Foucault]]-Schule, teils auch aus dem [[Maoismus|maoistischen Lager]] rekrutierten, hatten sich unter dem Einfluss von [[Alexander Solschenizyn]] zum [[Totalitarismus|Antitotalitarismus]] bekannt. Sie traten in den 1970er Jahren mit einer Kritik an „linkslastigen“ Philosophen an, unter ihnen [[Jean-Paul Sartre]] und verschiedene [[Poststrukturalismus|Poststrukturalisten]]. Diese „linken“ Philosophen stellten – so die Kritik der ''neuen Philosophen'' – gemeinschaftliche und [[Ideologie|ideologische]] [[Ideal (Philosophie)|Ideale]] über [[Humanismus|humanistische]] Gesichtspunkte, insbesondere über den Gesichtspunkt des Individuums. Sie seien derselben antihumanistischen Tradition zuzuordnen wie [[Friedrich Nietzsche]] und [[Martin Heidegger]].


Kennzeichen der ''neuen Philosophen'', die vor allem als polemische Essayisten und Literaten wirken, ist ein grundsätzlicher Vorbehalt gegen Argumente „von links“. Deren Vertreter schätzten die Autorität „linker“ Traditionen und ihre Verantwortung für die Politik prinzipiell zu hoch, insbesondere was das geistige Erbe des [[Hegel|Linkshegelianismus]] und von [[Karl Marx]] betreffe. Dass der (französische) Intellektuelle ein „links“ eingestellter Denker sein müsse, wie dies Jean-Paul Sartre oder Michel Foucault manifestieren, sei nicht nur ein verbreitetes Stereotyp, sondern ein haltloses Klischee.
Kennzeichen der ''neuen Philosophen'', die vor allem als [[Polemisch|polemische]] Essayisten und Literaten wirken, ist ein grundsätzlicher Vorbehalt gegen Argumente „von links“. Deren Vertreter würden die Autorität „linker“ Traditionen und ihre Verantwortung für die Politik prinzipiell zu hoch einschätzen, insbesondere was das geistige Erbe des [[Hegel|Linkshegelianismus]] und von [[Karl Marx]] betreffe. Dass der (französische) Intellektuelle ein „links“ eingestellter Denker sein müsse, wie dies Jean-Paul Sartre oder Michel Foucault manifestieren, sei nicht nur ein verbreitetes [[Stereotyp]], sondern ein haltloses [[Klischee]].


== Positionen zum Multikulturalismus und Islamismus ==
== Positionen zum Multikulturalismus und Islamismus ==
In der jüngeren Zeit richtete sich die Kritik der ''neuen Philosophen'' einerseits gegen die Indifferenz, welche die „Linke“ den humanitären Bedürfnissen von Mitgliedern anderer Kulturen entgegenbringe. So wendet sich Finkielkraut<ref>[[Alain Finkielkraut]]: ''Die Niederlage des Denkens'' (= ''rororo.'' 12413). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1989, ISBN 3-499-12413-0.</ref> gegen einen „Kulturrassismus“, der sich nicht mehr biologistischer Argumente bediene, sondern eine Ungleichwertigkeit der Kulturen annehme. Diese Entwertung fremder Kulturen sei eine westliche Erfindung. Insbesondere die diesbezügliche Polemik von Pascal Bruckner und [[Paul Cliteur]] wurde international verfolgt.
In der jüngeren Zeit richtete sich die Kritik der ''neuen Philosophen'' einerseits gegen die Indifferenz, welche die „Linke“ den humanitären Bedürfnissen von Mitgliedern anderer Kulturen entgegenbringe. So wendet sich Finkielkraut<ref>[[Alain Finkielkraut]]: ''Die Niederlage des Denkens'' (= ''rororo.'' 12413). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1989, ISBN 3-499-12413-0.</ref> gegen einen „Kulturrassismus“, der sich nicht mehr biologistischer Argumente bediene, sondern eine Ungleichwertigkeit der Kulturen annehme. Diese Entwertung fremder Kulturen sei eine westliche Erfindung. Insbesondere die diesbezügliche Polemik von Pascal Bruckner und [[Paul Cliteur]] wurde international rezipiert.


Andererseits kritisieren Vertreter der Strömung die Idealisierung des [[Multikulturalismus]] durch europäische Intellektuelle. Lévy entwickelte sich zu einem Kritiker des von ihm so bezeichneten „Islamofaschismus“.<ref>''Ich führe Krieg.'' [http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-69821883.html Spiegel-Gespräch mit Bernard-Henri Lévy]. In: ''[[Der Spiegel]]'', 3. April 2010.</ref> In ''L'Empire et les cinq rois'' wirft Lévy den Amerikanern vor, die Welt den Russen, Chinesen, Türken, dem Iran und dem sunnistischen Islam zu überlassen. Nur die USA und Israel könnten diese Mächte in Schach halten.<ref>[[Bernard-Henri Lévy]]: ''The Empire and the Five Kings. America's Abdication and the Fate of the World.'' Henry Holt, New York NY 2019, ISBN 978-1-250-20302-1.</ref> Bruckner wirft der Linken vor, dass sie den Kapitalismus durch Reformen gestärkt und seine ökonomischen Prioritäten, den Kern der Warenproduktion nicht angerührt habe.<ref>[[Pascal Bruckner]]: ''Misère de la prospérité. La religion marchande et ses ennemis.'' Grasset, Paris 2002, ISBN 2-246-53411-9.</ref>
Andererseits kritisieren Vertreter der Strömung die Idealisierung des [[Multikulturalismus]] durch europäische Intellektuelle. Lévy entwickelte sich zu einem Kritiker des von ihm so bezeichneten „Islamofaschismus“.<ref>''Ich führe Krieg.'' [http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-69821883.html Spiegel-Gespräch mit Bernard-Henri Lévy]. In: ''[[Der Spiegel]]'', 3. April 2010.</ref> In ''L'Empire et les cinq rois'' wirft Lévy den Amerikanern vor, die Welt den Russen, Chinesen, Türken, dem Iran und dem [[Sunnitischer Islam|sunnitischen Islam]] zu überlassen. Nur die USA und Israel könnten diese Mächte in Schach halten.<ref>[[Bernard-Henri Lévy]]: ''The Empire and the Five Kings. America's Abdication and the Fate of the World.'' Henry Holt, New York NY 2019, ISBN 978-1-250-20302-1.</ref> Bruckner wirft der Linken vor, dass sie den [[Kapitalismus]] durch Reformen gestärkt und seine ökonomischen Prioritäten, den Kern der Warenproduktion nicht angerührt habe.<ref>[[Pascal Bruckner]]: ''Misère de la prospérité. La religion marchande et ses ennemis.'' Grasset, Paris 2002, ISBN 2-246-53411-9.</ref>


== Kritik ==
== Kritik ==
Die Bewegung wurde vehement kritisiert. [[François Aubral]] und [[Xavier Delcourt]] sprechen von einem medialen Phänomen, einer ''pub-philosophie'', die von Bernard-Henri Lévy mit dem Ziel der Absatzförderung der von ihm geleiteten Reihen im Verlag [[Éditions Grasset & Fasquelle|Grasset]] initiiert worden sei. Ihre Philosophie sei leer („vacuité“).<ref>Aubral, Delcourt: ''Contre la nouvelle philosophie.'' Paris 1977.</ref>
Die Bewegung wurde vehement kritisiert. [[François Aubral]] und [[Xavier Delcourt]] sprechen von einem medialen Phänomen, einer ''pub-philosophie'', die von Bernard-Henri Lévy mit dem Ziel der Absatzförderung der von ihm geleiteten Reihen im Verlag [[Éditions Grasset & Fasquelle|Grasset]] initiiert worden sei. Ihre Philosophie sei leer („vacuité“).<ref>Aubral, Delcourt: ''Contre la nouvelle philosophie.'' Paris 1977.</ref>


[[Gilles Deleuze]] sprach von einer Rückkehr „großer Konzepte“ im Rahmen vereinfachter [[Dualismus|dualistischer]] Gegenüberstellungen – etwas, gegen das seine eigene Generation mit guten Gründen gekämpft habe. Die Äußerungen der neuen Philosophen seien leere Beschwörungen: DER Glaube, DAS Gesetz, DIE Welt, und sie seien selbstbezogen: Ich als Angehöriger der vorlorenen Generation, des Mai 68, ich als Christ, ich als Zeitzeuge sage euch... (so Lévy in ''Die Barbarei mit menschlichem Antlitz'', das mit dem Satz beginnt: „Ich bin das uneheliche Kind eines teuflischen Paars, des Stalinismus und des Faschismus“). Die neuen Philosophen hätten keine neue philosophische Schule begründet, was ansonsten in Frankreich eine lange Tradition mit ausgesprochen autoritären und inquisitorischen Nebeneffekten hatte; sie seien literarische Selbstvermarkter. Ihr Werk sei von Journalisten und vom Fernsehen auf der Suche nach „Ereignissen“ aufgewertet worden. Sie seien Konformisten und lebten von den Märtyrern und „Kadavern“ der stalinistischen und anderer Gewalttaten. „Ihr Denken ist Null.“<ref>[http://www.generation-online.org/p/fpdeleuze9.htm ''Deleuze on the nouveaux philosophes'']. Online-Veröffentlichung des Textes aus ''Minuit'', Supplément au n°24, Mai 1977 (französisch).</ref>
[[Gilles Deleuze]] sprach von einer Rückkehr „großer Konzepte“ im Rahmen vereinfachter [[Dualismus|dualistischer]] Gegenüberstellungen – etwas, gegen das seine eigene Generation mit guten Gründen gekämpft habe. Die Äußerungen der neuen Philosophen seien leere Beschwörungen: DER Glaube, DAS Gesetz, DIE Welt, und sie seien selbstbezogen: Ich als Angehöriger der verlorenen Generation, des Mai '68, ich als Christ, ich als Zeitzeuge sage euch... (so Lévy in ''Die Barbarei mit menschlichem Antlitz'', das mit dem Satz beginnt: „Ich bin das uneheliche Kind eines teuflischen Paars, des Stalinismus und des Faschismus“). Die neuen Philosophen hätten keine neue philosophische Schule begründet, was ansonsten in Frankreich eine lange Tradition mit ausgesprochen autoritären und inquisitorischen Nebeneffekten hatte; sie seien literarische Selbstvermarkter. Ihr Werk sei von Journalisten und vom Fernsehen auf der Suche nach „Ereignissen“ aufgewertet worden. Sie seien [[Konformismus|Konformisten]] und lebten von den Märtyrern und „Kadavern“ der stalinistischen und anderer Gewalttaten. „Ihr Denken ist Null.“<ref>[http://www.generation-online.org/p/fpdeleuze9.htm ''Deleuze on the nouveaux philosophes'']. Online-Veröffentlichung des Textes aus ''Minuit'', Supplément au n°24, Mai 1977 (französisch).</ref>


[[Jürg Altwegg]] konstatiert, dass der Antitotalitarismus der neuen Philosophen nur den Marxismus ersetzt habe. Der sog. Islamtotalitarismus sei eine neue Variante davon. Es gehe darum, die neuen Tyrannen „prophylaktisch zu bekriegen, um Genozide zu vermeiden. Im ersten Golfkrieg wurde [...] Saddam Hussein mit Hitler gleichgesetzt; er hatte die Kurden mit Gas bekämpft. Auch die Bomben gegen seinen nächsten Wiedergänger, Milošević, fielen im Namen der Vergangenheitsbewältigung: zur Verhinderung ethnischer Säuberungen in Bosnien. Gleichzeitig allerdings ignorierten die antitotalitären Intellektuellen den realen Genozid in Ruanda, bei dem die Mitverantwortung ihres eigenen Landes unbestritten ist.“<ref> Jürg Altwegg: [https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/bernard-henri-levy-versucht-sein-lebenswerk-zu-retten-15686112.html ''Er wollte den Krieg, und er bekam ihn.''] In: faz.net, 12. Juli 2018.</ref> Lévy habe den Krieg gegen Libyen aktiv propagiert, habe bei Sarkozy dafür geworben, „und er bekam ihn“. Altwegg prognostiziert, das keines der Werke Lévys, die an aktuelle Umstände gebunden waren, ihn überleben werden.
[[Jürg Altwegg]] konstatiert, dass der Antitotalitarismus der neuen Philosophen nur den Marxismus ersetzt habe. Der sog. Islamtotalitarismus sei eine neue Variante davon. Es gehe darum, die neuen Tyrannen „prophylaktisch zu bekriegen, um Genozide zu vermeiden. Im ersten Golfkrieg wurde [...] Saddam Hussein mit Hitler gleichgesetzt; er hatte die Kurden mit Gas bekämpft. Auch die Bomben gegen seinen nächsten Wiedergänger, Milošević, fielen im Namen der Vergangenheitsbewältigung: zur Verhinderung ethnischer Säuberungen in Bosnien. Gleichzeitig allerdings ignorierten die antitotalitären Intellektuellen den realen Genozid in Ruanda, bei dem die Mitverantwortung ihres eigenen Landes unbestritten ist.“<ref> Jürg Altwegg: [https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/bernard-henri-levy-versucht-sein-lebenswerk-zu-retten-15686112.html ''Er wollte den Krieg, und er bekam ihn.''] In: faz.net, 12. Juli 2018.</ref> Lévy habe den Krieg gegen Libyen aktiv propagiert, habe bei [[Sarkozy]] dafür geworben, „und er bekam ihn“. Altwegg prognostiziert, das keines der Werke Lévys, die an aktuelle Umstände gebunden waren, Lévy überleben werde.


== Literatur ==
== Literatur ==

Aktuelle Version vom 14. Mai 2024, 17:11 Uhr

Mit Nouvelle Philosophie (oft wird auch von den neuen Philosophen gesprochen) bezeichnet man eine Gruppe französischer Intellektueller um André Glucksmann, Alain Finkielkraut, Bernard-Henri Lévy, Pascal Bruckner, Jean-Marie Benoist, Jean-Paul Dollé, Michel Guérin, Christian Jambet und Gilles Susong. Die Strömung wird nach dem Titel eines Heftes der Zeitschrift Les Nouvelles littéraires bezeichnet, das im Juni 1976 erschien und dessen Redaktion von Jean-Marie Borzeix dem jungen Bernard-Henri Lévy übertragen worden war.[1]

Die Vertreter der Strömung, die sich teils aus der existenzialistischen und der Foucault-Schule, teils auch aus dem maoistischen Lager rekrutierten, hatten sich unter dem Einfluss von Alexander Solschenizyn zum Antitotalitarismus bekannt. Sie traten in den 1970er Jahren mit einer Kritik an „linkslastigen“ Philosophen an, unter ihnen Jean-Paul Sartre und verschiedene Poststrukturalisten. Diese „linken“ Philosophen stellten – so die Kritik der neuen Philosophen – gemeinschaftliche und ideologische Ideale über humanistische Gesichtspunkte, insbesondere über den Gesichtspunkt des Individuums. Sie seien derselben antihumanistischen Tradition zuzuordnen wie Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger.

Kennzeichen der neuen Philosophen, die vor allem als polemische Essayisten und Literaten wirken, ist ein grundsätzlicher Vorbehalt gegen Argumente „von links“. Deren Vertreter würden die Autorität „linker“ Traditionen und ihre Verantwortung für die Politik prinzipiell zu hoch einschätzen, insbesondere was das geistige Erbe des Linkshegelianismus und von Karl Marx betreffe. Dass der (französische) Intellektuelle ein „links“ eingestellter Denker sein müsse, wie dies Jean-Paul Sartre oder Michel Foucault manifestieren, sei nicht nur ein verbreitetes Stereotyp, sondern ein haltloses Klischee.

Positionen zum Multikulturalismus und Islamismus

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In der jüngeren Zeit richtete sich die Kritik der neuen Philosophen einerseits gegen die Indifferenz, welche die „Linke“ den humanitären Bedürfnissen von Mitgliedern anderer Kulturen entgegenbringe. So wendet sich Finkielkraut[2] gegen einen „Kulturrassismus“, der sich nicht mehr biologistischer Argumente bediene, sondern eine Ungleichwertigkeit der Kulturen annehme. Diese Entwertung fremder Kulturen sei eine westliche Erfindung. Insbesondere die diesbezügliche Polemik von Pascal Bruckner und Paul Cliteur wurde international rezipiert.

Andererseits kritisieren Vertreter der Strömung die Idealisierung des Multikulturalismus durch europäische Intellektuelle. Lévy entwickelte sich zu einem Kritiker des von ihm so bezeichneten „Islamofaschismus“.[3] In L'Empire et les cinq rois wirft Lévy den Amerikanern vor, die Welt den Russen, Chinesen, Türken, dem Iran und dem sunnitischen Islam zu überlassen. Nur die USA und Israel könnten diese Mächte in Schach halten.[4] Bruckner wirft der Linken vor, dass sie den Kapitalismus durch Reformen gestärkt und seine ökonomischen Prioritäten, den Kern der Warenproduktion nicht angerührt habe.[5]

Die Bewegung wurde vehement kritisiert. François Aubral und Xavier Delcourt sprechen von einem medialen Phänomen, einer pub-philosophie, die von Bernard-Henri Lévy mit dem Ziel der Absatzförderung der von ihm geleiteten Reihen im Verlag Grasset initiiert worden sei. Ihre Philosophie sei leer („vacuité“).[6]

Gilles Deleuze sprach von einer Rückkehr „großer Konzepte“ im Rahmen vereinfachter dualistischer Gegenüberstellungen – etwas, gegen das seine eigene Generation mit guten Gründen gekämpft habe. Die Äußerungen der neuen Philosophen seien leere Beschwörungen: DER Glaube, DAS Gesetz, DIE Welt, und sie seien selbstbezogen: Ich als Angehöriger der verlorenen Generation, des Mai '68, ich als Christ, ich als Zeitzeuge sage euch... (so Lévy in Die Barbarei mit menschlichem Antlitz, das mit dem Satz beginnt: „Ich bin das uneheliche Kind eines teuflischen Paars, des Stalinismus und des Faschismus“). Die neuen Philosophen hätten keine neue philosophische Schule begründet, was ansonsten in Frankreich eine lange Tradition mit ausgesprochen autoritären und inquisitorischen Nebeneffekten hatte; sie seien literarische Selbstvermarkter. Ihr Werk sei von Journalisten und vom Fernsehen auf der Suche nach „Ereignissen“ aufgewertet worden. Sie seien Konformisten und lebten von den Märtyrern und „Kadavern“ der stalinistischen und anderer Gewalttaten. „Ihr Denken ist Null.“[7]

Jürg Altwegg konstatiert, dass der Antitotalitarismus der neuen Philosophen nur den Marxismus ersetzt habe. Der sog. Islamtotalitarismus sei eine neue Variante davon. Es gehe darum, die neuen Tyrannen „prophylaktisch zu bekriegen, um Genozide zu vermeiden. Im ersten Golfkrieg wurde [...] Saddam Hussein mit Hitler gleichgesetzt; er hatte die Kurden mit Gas bekämpft. Auch die Bomben gegen seinen nächsten Wiedergänger, Milošević, fielen im Namen der Vergangenheitsbewältigung: zur Verhinderung ethnischer Säuberungen in Bosnien. Gleichzeitig allerdings ignorierten die antitotalitären Intellektuellen den realen Genozid in Ruanda, bei dem die Mitverantwortung ihres eigenen Landes unbestritten ist.“[8] Lévy habe den Krieg gegen Libyen aktiv propagiert, habe bei Sarkozy dafür geworben, „und er bekam ihn“. Altwegg prognostiziert, das keines der Werke Lévys, die an aktuelle Umstände gebunden waren, Lévy überleben werde.

  • François Aubral, Xavier Delcourt: Contre la nouvelle philosophie (= Collection idées. 380, ISSN 0530-8089). Gallimard, Paris 1977.
  • Gilles Deleuze: À propos des nouveaux philosophes et d’un problème plus general. In: Minuit. Nr. 24, Supplément, 1977, (Digitalisat; auch in: Gilles Deleuze: Deux régimes de fous et autres textes. Textes et entretiens 1975–1995. Éditions de Minuit, Paris 2003, ISBN 2-7073-1834-5, S. 126–134).
  • Peter Dews: The Nouvelle Philosophie and Foucault. In: Economy and Society. Bd. 8, Nr. 2, 1979, S. 127–171, doi:10.1080/03085147900000005.
  • Richard J. Golsan: French Writers and the Politics of Complicity. Crises of Democracy in the 1940s and 1990s. The Johns Hopkins University Press, Baltimore MD 2006, ISBN 0-8018-8258-3.
  • Peter Kampits: Von der Politik zur Ethik. Frankreichs ‚Nouvelle Philosophie‘. In: Wissenschaft und Weltbild. 1978/2.
  • Dominique Lecourt: The Mediocracy. French Philosophy since the mid-1970s. Verso, London u. a. 2001, ISBN 1-85984-793-5.
  • Günther Schiwy: Poststrukturalismus und „Neue Philosophen“ (= Rowohlts Enzyklopädie. 413). Überarbeitete Neuausgabe. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1985, ISBN 3-499-55413-5.
  • Peter Starr: Logics of Failed Revolt. French Theory after May '68. Stanford University Press, Stanford CA 1995, ISBN 0-8047-2445-8.

Einzelnachweise

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  1. Stichwort Nouvelle Philosophie auf www.histophilo.com.
  2. Alain Finkielkraut: Die Niederlage des Denkens (= rororo. 12413). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1989, ISBN 3-499-12413-0.
  3. Ich führe Krieg. Spiegel-Gespräch mit Bernard-Henri Lévy. In: Der Spiegel, 3. April 2010.
  4. Bernard-Henri Lévy: The Empire and the Five Kings. America's Abdication and the Fate of the World. Henry Holt, New York NY 2019, ISBN 978-1-250-20302-1.
  5. Pascal Bruckner: Misère de la prospérité. La religion marchande et ses ennemis. Grasset, Paris 2002, ISBN 2-246-53411-9.
  6. Aubral, Delcourt: Contre la nouvelle philosophie. Paris 1977.
  7. Deleuze on the nouveaux philosophes. Online-Veröffentlichung des Textes aus Minuit, Supplément au n°24, Mai 1977 (französisch).
  8. Jürg Altwegg: Er wollte den Krieg, und er bekam ihn. In: faz.net, 12. Juli 2018.